Totenbuch
Ich komme.«
Charmant wie General Patton, konstatiert Lucious
ärgerlich und fühlt sich von oben herab abgefertigt, als er wieder in seinen
Leichenwagen steigt. Er denkt an die Geschichten, die ihm in letzter Zeit so
zu Ohren gekommen sind. Früher einmal soll Dr. Scarpetta ebenso berühmt gewesen
sein wie Quincy. Allerdings ist in ihrer Zeit als Chefin der Gerichtsmedizin
etwas vorgefallen ... Er weiß nicht mehr, wo das war. Sie ist gefeuert worden.
Ein Skandal. Dann der Fall in Florida vor einigen Jahren, der durch alle Medien
ging. Eine nackte Frau, die an einem Deckenbalken hing. Sie wurde gequält und
gefoltert, bis sie es nicht mehr aushielt und sich selbst das Leben nahm.
Eine Patientin dieser Fernsehpsychologin. Lucious
überlegt. Ob wohl noch mehr als eine Person gefoltert und getötet wurde? Er ist
ziemlich sicher, dass Dr. Scarpetta vor Gericht ausgesagt hat. Hauptsächlich
ihren Einlassungen ist es zu verdanken, dass die Geschworenen Dr. Self eine
Teilschuld zugesprochen haben. In einigen Artikeln, die er seitdem gelesen
hat, hat Dr. Seif Dr. Scarpetta als »inkompetent und betriebsblind«, »verkappte
Lesbe« und »nicht mehr auf dem Stand der Zeit« bezeichnet. Vermutlich hat sie
recht. Die meisten einflussreichen Frauen sind wie Männer oder wären gern
welche. Als Scarpetta damals anfing, gab es in ihrem Beruf sicher noch nicht
viele Frauen. Inzwischen sind es bestimmt Tausende. Angebot und Nachfrage.
Jetzt hat sie keine Sonderrolle mehr. Überall wimmelt es nur so von Frauen -
viel jünger als sie, dazu hat das Fernsehen seinen Teil beigetragen -, die
denselben Beruf ausüben. Dieser Umstand und die überall kursierenden Gerüchte
sind doch mehr Grund als genug, sich hier in Lowcountry zu verkriechen und in
einem winzigen Kutschhaus - einem ehemaligen Stall, wenn wir mal ehrlich sein
wollen - ein Labor zu betreiben. Niemals würde Lucious in so einem Loch
arbeiten.
Er wohnt über dem Bestattungsinstitut in Beaufort
County, das sich nun schon seit mehr als hundert Jahren in Familienbesitz
befindet. Die zweistöckige Villa, das ehemalige Haupthaus einer Plantage,
verfügt noch über originale Sklavenhütten, ein himmelweiter Unterschied zu
diesem schäbigen Kutschhaus in einer schmalen Seitengasse. Ein Skandal ist das!
Wer seine Leichen in einem professionell eingerichteten Raum in einer Villa
einbalsamiert und auf die Beerdigung vorbereitet, spielt doch in einer ganz
anderen Liga als Leute, die in einem Kutschhaus Autopsien durchführen!
Insbesondere, wenn man es mit Wasserleichen und anderen Exemplaren zu tun hat,
bei denen man sich alle Mühe geben muss, um sie für die Familien einigermaßen
vorzeigbar herzurichten. Manchmal kriegt man auch mit noch so viel
Luftreiniger den Geruch nicht aus der Kapelle.
Hinter dem Doppeltor erscheint eine Frau. Er mustert
sie durch das getönte Seitenfenster. Metall klappert, als sie das erste
schwarze Tor öffnet und wieder hinter sich schließt. Dann ist das äußere an der
Reihe. Sie trägt ein Karrierekostüm und hat blondes Haar. Er schätzt sie auf
eins fünfundsechzig, Rockgröße achtunddreißig, Bluse vierzig. Wenn es darum
geht, sich vorzustellen, wie ein Mensch nackt auf seinem Tisch aussehen würde,
liegt Lucious niemals daneben, und er behauptet oft scherzhaft, er hätte einen
Röntgenblick.
Als sie an die getönte Scheibe klopft, wird er
nervös. Die Finger zucken auf seinem Schoß und fahren in Richtung Mund, als
hätten sie ein Eigenleben, sodass er sie bewusst daran hindern muss. Also lässt
er das Gummiband am Handgelenk kräftig schnalzen und sagt seinen Händen, dass
sie damit aufhören sollen. Noch einmal schnalzt er mit dem Gummiband und
umfasst fest das Lenkrad aus Wurzelholz, um seinen Händen Einhalt zu gebieten.
Sie klopft wieder.
Daraufhin öffnet er das Fenster. »Ein ungewöhnlicher
Ort für eine Praxis«, sagt er mit einem professionellen Lächeln.
»Sie sind hier auch falsch«, entgegnet sie - und
zwar, ohne diesem Satz ein »Guten Morgen« oder ein »Nett, Sie kennenzulernen«
vorauszuschicken. »Was um alles in der Welt tun Sie hier? Woher haben Sie diese
Adresse?«, hakt sie in demselben unfreundlichen Ton nach. Offenbar hat sie es
sehr eilig. »Das hier ist nicht mein Büro, und, wie Sie sicher sehen können,
auch kein Autopsiesaal. Tut mir leid, dass ich Ihnen Umstände machen muss, aber
Sie fahren jetzt besser wieder.«
»Ich bin Lucious Meddick vom Bestattungsinstitut
Meddick in Beaufort, gleich hinter Hilton Head.«
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