Totenbuch
geschickt hat, das ihren Tagesablauf umwerfen könnte. Keine
Nachrichten. Um auf Nummer sicher zu gehen, ruft sie ihn an.
»Ja.« Er klingt benommen. »Mist, wer ist denn das?«,
beklagt sich eine unbekannte Frauenstimme im Hintergrund.
»Kommst du auf jeden Fall ins Büro?«, vergewissert
sich Scarpetta. »Man hat mir gestern Abend mitgeteilt, eine Leiche wäre von
Beaufort County unterwegs hierher, und ich gehe davon aus, dass du da sein
wirst, um sie in Empfang zu nehmen. Außerdem haben wir heute Nachmittag eine
Besprechung. Ich habe dir eine Nachricht hinterlassen, aber du hast nicht
zurückgerufen.«
»Ja.«
»Was will sie denn jetzt schon wieder?«, quengelt
die Frauenstimme.
»Du musst innerhalb der nächsten Stunde dort sein«,
verkündet Scarpetta mit Nachdruck. »Wenn du jetzt nicht sofort losfährst, ist
niemand da, der den Fahrer reinlässt. Bestattungsinstitut Meddick. Ich hatte
noch nicht das Vergnügen.«
»Ja.«
»Ich bin gegen elf da und sehe, was ich bei dem
kleinen Jungen noch feststellen kann.«
Als ob der Mord an Drew Martin nicht schon genug
wäre! Gleich am ersten Tag nach ihrer Rückkehr aus Rom hat Scarpetta einen
weiteren tragischen Fall auf den Tisch bekommen, einen ermordeten kleinen
Jungen, von dem sie noch immer nicht weiß, wie er heißt. Heimatlos, wie er ist,
hat er sich in ihren Gedanken eingenistet, und so sieht sie immer wieder sein
zartes Gesicht, den ausgemergelten Körper und die braunen Locken vor sich,
wenn sie am allerwenigsten damit rechnet. Und auch alles andere. Zum Beispiel
seinen Körper, als sie mit ihm fertig war. Nach all den Jahren und den
Tausenden von Fällen fällt es ihr noch immer schwer, die Ruhe der Toten stören
zu müssen, nur weil sich zuvor jemand an ihnen vergriffen hat.
»Ja.« Eine bessere Antwort fällt Marino offenbar
nicht dazu ein.
»Trotzig und unhöflich ...«, murmelt Scarpetta auf
dem Weg nach unten vor sich hin. »Ich habe es so verdammt satt!« Ein entnervtes
Aufseufzen.
In der Küche klappern ihre Absätze laut auf dem
Terrakottaboden, den sie vor ihrem Einzug ins Kutschhaus in tagelanger Arbeit
eigenhändig im Fischgrätmuster verlegt hat. Die Wände hat sie weiß gestrichen,
um das Licht vom Garten einzufangen, und auch die originalen Deckenbalken aus
Zypressenholz hat sie selbst restauriert. Die ordentlich eingerichtete Küche -
der wichtigste Raum im Haus - ist mit Edelstahlgeräten, stets blitzblank
polierten Töpfen und Pfannen aus Kupfer, Schneidebrettern und handgefertigten
deutschen Messern ausgestattet, die eines Profikochs würdig wären. Eigentlich
müsste ihre Nichte Lucy jeden Moment hier sein. Scarpetta hat sich zwar über
den Anruf gefreut, ist aber auch neugierig auf den Grund. Lucy lädt sich
nämlich nur selten selbst zum Frühstück ein.
Scarpetta sucht die Zutaten für Omelettes aus
Eiklar, gefüllt mit Ricotta-Käse und weißen, in Sherry und unfiltriertem
Olivenöl gedünsteten Champignons, zusammen. Kein Brot. Nicht einmal die auf
einer Terrakottaplatte - dem testo - selbst gebackenen Fladen. Das Gerät hat sie eigenhändig
aus Bologna über den großen Teich gebracht, in einer Zeit, als die
Sicherheitskräfte am Flughafen Kochutensilien noch nicht als Angriffswaffen
eingestuft haben. Lucy hält nämlich streng Diät. Warum, lautet
Scarpettas stets gleichbleibende Frage. Für das
Leben, erwidert Lucy immer. Versunken
in die Tätigkeit, das Eiklar mit einem Schneebesen aufzuschlagen, und in
Gedanken bei den ihr heute bevorstehenden Aufgaben, schrickt Scarpetta
zusammen, als plötzlich etwas gegen eine Fensterscheibe im oberen Stockwerk
knallt.
»Bitte nicht!«, ruft sie, legt den Schneebesen weg
und hastet zur Tür. Nachdem sie die Alarmanlage deaktiviert hat, läuft sie auf
die Terrasse hinaus, wo ein gelber Fink hilflos flatternd auf den alten
Backsteinen liegt. Als sie ihn vorsichtig aufhebt, sackt sein Köpflein zur
Seite; seine Augen sind halb geschlossen. Beruhigend redet sie auf den Vogel
ein und streicht ihm über das seidige Gefieder, wäh rend er versucht, sich
aufzurichten und wegzufliegen. Aber sein Kopf kippt wieder zur Seite. Er ist
bestimmt nur betäubt und wird sich sicher gleich erholen. Doch er fällt wieder
um, flattert und kann den Kopf nicht gerade halten. Vielleicht wird er ja doch
nicht sterben. Ein albernes Wunschdenken für jemanden, der es eigentlich
besser wissen müsste. Scarpetta trägt den Vogel ins Haus. In der verschlossenen
untersten Küchenschublade befindet sich eine
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