Totenbuch
ordentlich
aufgereiht und blitzblank auf den Einbauregalen. »Der Salon war der offizielle
Empfangsraum gleich neben der Eingangstür, in den man die Leute bat, die man
rasch wieder loswerden wollte. Für das Wohnzimmer galt das genaue Gegenteil.«
»Für mich hört es sich an, als wärst du froh, dass
sie dieses Haus gekauft hat, auch wenn du dich noch so sehr darüber beklagst.«
»Für eine alte Hütte ist es gar nicht schlecht. Aber
mir sind Neubauten lieber.«
»Bei dir scheint es ja trotz Alter noch ganz gut zu
laufen.« Sie greift ihm kräftig zwischen die Beine. »Fühlt sich eigentlich noch
ganz frisch an. Und jetzt zeig mir ihr Büro. Zeig mir, wo die große Chefin
arbeitet.« Wieder greift sie zu. »Hast du den Ständer jetzt wegen mir oder
ihretwegen?«
»Sei still.« Shandys Sprüche gehen ihm auf die
Nerven, und er schiebt ihre Hand weg.
»Zeig mir, wo sie arbeitet.«
»Ich habe nein gesagt.«
»Dann zeig mir den Autopsiesaal.«
»Geht nicht.«
»Warum? Weil du so eine Scheißangst vor ihr hast?
Was kann sie denn schon groß tun? Dich anzeigen? Ich will es sehen«, fordert
sie.
Marino wirft einen Blick auf die winzige Kamera in
einer Ecke des Flurs. Niemand wird sich die Bänder anschauen. Shandy hat recht.
Wer würde sich die Mühe machen? Es gibt doch keinen Grund dafür. Wieder steigt
das Gefühl in ihm hoch, eine Mischung aus Trotz, Wut und Rachsucht, die ihn
treibt, etwas Schlimmes zu tun.
Die Tastatur klappert unter Dr. Selfs Fingern. Eine
E-Mail nach der anderen wird abgefeuert: an Agenten, Anwälte, Finanzberater,
die Intendanten von Fernsehsendern, Lieblingspatienten und ganz spezielle Fans.
Aber nichts Neues von ihm. Dem
Sandman. Dr. Seif hält es kaum noch aus. Offenbar möchte er sie glauben machen,
dass er das Unvorstellbare getan hat, um sie mit Todesangst zu quälen. Er will
sie zwingen, das Undenkbare zu denken. Als sie an jenem verhängnisvollen
Freitag während der Mittagspause im Studio seine letzte E-Mail geöffnet hat,
hat seine Nachricht ihr Leben verändert. Zumindest vorübergehend.
Lass es nicht
wahr sein.
Wie dumm und leichtgläubig sie gewesen ist, ihm zu
antworten, als er im vergangenen Herbst die erste Mail an ihre Privatadresse
schickte. Doch ihre Neugier war geweckt. Woher nur hatte er ihre wirklich sehr,
sehr private E-Mail-Adresse? Das musste sie unbedingt in Erfahrung bringen.
Also schrieb sie zurück und fragte ihn danach. Doch er verriet es ihr nicht.
Und so begann ein Briefwechsel. Er ist ein sehr ungewöhnlicher, ein ganz
besonderer Mensch. Irak-Veteran. Schweres Kriegstrauma. Dessen gewiss, dass er
ein ausgesprochen interessanter Gast für ihre Sendung sein könnte, hat sie eine
therapeutische Online-Beziehung mit ihm angefangen, allerdings ohne zu ahnen, dass
er zum Undenkbaren fähig war. Bitte,
lass es nicht wahr sein.
Wenn sie es nur wieder rückgängig machen könnte!
Wenn sie ihm doch nie geantwortet hätte! Wenn sie doch nie versucht hätte, ihm
zu helfen. Er ist wahnsinnig, ein Wort, das sie nur selten benutzt. Schließlich
begründet sich ihr Ruhm darauf, dass jeder Mensch in der Lage ist, sich zu
ändern. Er aber nicht. Nicht, wenn er das Undenkbare getan hat.
Bitte, lass es nicht wahr sein.
Falls es sich wirklich so verhält, hat sie es mit
einem Ungeheuer in Menschengestalt zu tun, dem nicht mehr zu helfen ist. Warum
nennt er sich Sandman? Und warum hat sie keine Erklärung dafür von ihm
verlangt, nötigenfalls mit der Drohung, ansonsten den Kontakt zu ihm
abzubrechen?
Weil sie Psychiaterin ist und Psychiater ihren
Patienten nicht drohen.
Bitte, lass das Undenkbare nicht wahr sein.
Ganz gleich, wer er auch sein mag: Weder sie noch
sonst jemand auf der Welt kann ihm helfen. Und nun hat er womöglich getan,
womit sie nie gerechnet hätte. Wenn ja, gibt es für Dr. Seif nur eine
Möglichkeit, ihre Haut zu retten. Das hat sie im Studio entschieden, und zwar
während jener Mittagspause, die sie nie wieder vergessen wird. Denn seit sie
das Foto kennt, das er ihr geschickt hat, hat sie den Verdacht, dass sie aus
einer Vielzahl von Gründen in Lebensgefahr schweben könnte. Und so hat sie den
Produzenten gegenüber eine familiäre Krise vorgeschützt, die leider äußerste
Diskretion verlange. Sie werde, hoffentlich nur für einige Wochen, eine Weile
nicht auf Sendung sein. Der Sender müsse sich also bedauerlicherweise mit
ihrem Stellvertreter begnügen (ein Psychologe, einigermaßen amüsant, aber keine
Konkurrenz für sie, auch wenn er
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