Totenbuch
und konnte ihr unermessliches
Leid nachfühlen«, hat der Sandman geschrieben. »Sie wird mir dankbar sein.«
Dr. Seif betrachtet das Foto auf ihrem Bildschirm.
Gewiss wird sie ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, weil sie beim Eintreffen der
E-Mail vor genau neun Tagen nicht sofort die Polizei verständigt hat. Niemand
wird ihre Begründung verstehen, so logisch diese auch sein mag: Wenn die
Aufnahme, die der Sandman ihr geschickt hat, tatsächlich echt ist, wäre es
sowieso zu spät gewesen, um etwas zu unternehmen. Und falls es sich um einen
kranken Scherz handelt (etwa um eine mit Hilfe eines dieser modernen
Bildbearbeitungsprogramme hergestellte Montage), wäre es doch unklug gewesen,
es an die große Glocke zu hängen und vielleicht einen anderen Geistesgestörten
zur Nachahmung anzuregen.
Missmutig denkt Dr. Seif an Marino. Und an Benton.
An Scarpetta.
Scarpetta steht ihr deutlich vor Augen.
Schwarzes Kostüm mit breiten hellblauen
Nadelstreifen und eine farblich darauf abgestimmte blaue Bluse, die ihre Augen
noch blauer leuchten ließen. Das blonde Haar trug sie kurz geschnitten, und
sie war nur sehr dezent geschminkt. Eine eindrucksvolle, starke Persönlichkeit.
Hoch aufgerichtet, aber dennoch locker, saß sie im Zeugenstand und sah die
Geschworenen an, die gebannt an ihren Lippen hingen. Sie brauchte nicht ein
einziges Mal ihre Notizen zu Rate zu ziehen.
»Aber ist es nicht so, dass nahezu alle Todesfälle
durch Erhängen als Selbstmorde einzustufen sind? Ist das nicht ein Hinweis
darauf, dass sie sich möglicherweise doch selbst das Leben genommen hat?« Einer
von Dr. Selfs Anwälten ging im Gerichtssaal auf und ab.
Obwohl Dr. Seif bereits als Zeugin entlassen worden
war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, den Prozess weiterzuverfolgen
und Scarpetta zu beobachten. Gespannt wartete sie darauf, dass sie sich
verhaspeln oder in Widersprüche verstricken würde.
»Heutzutage trifft es statistisch zu, dass wir es
bei den meisten Todesfällen durch Erhängen - soweit uns bekannt - mit einem
Suizid zu tun haben«, erwiderte Scarpetta, an die Geschworenen gewandt. Sie
würdigte Dr. Selfs Anwalt keines Blickes und behandelte ihn, als müsse sie
sich durch eine Gegensprechanlage aus einem Nebenzimmer mit ihm verständigen.
»Soweit uns bekannt? Soll das heißen, Mrs. Scarpetta, dass ...«
»Dr. Scarpetta.« Ein Lächeln an die Geschworenen.
Offenbar hingerissen von ihr, lächelten sie zurück.
Sie lauschten fasziniert, wie Scarpetta gnadenlos Dr. Selfs Glaubwürdigkeit und
ihren guten Ruf beschädigte, ohne zu bemerken, dass sie nur verdrehte
Tatsachen und Unwahrheiten zu hören bekamen. Oh, ja, und natürlich auch Lügen! Mord, kein Selbstmord. Dr. Seif ist indirekt für einen Mord verantwortlich! Aber
es ist doch nicht ihre Schuld! Woher hätte sie denn wissen sollen, dass diese
Menschen umgebracht werden sollten? Nur weil jemand aus seinem Haus
verschwindet, bedeutet das doch noch lange nicht, dass ihm etwas zugestoßen
sein muss.
Und als Dr. Scarpetta sie anrief, um sich nach dem
Tablettendöschen zu erkundigen, aus dessen Aufkleber hervorging, dass Dr. Seif
das darin enthaltene Medikament verschrieben hatte - hat sie sich da nicht mit
gutem Recht geweigert, Auskünfte über derzeitige oder ehemalige Patienten zu
erteilen? Wie hätte sie ahnen können, dass jemand dabei zu Tode kommen würde?
Und zwar auf unaussprechliche Art und Weise. Es ist nicht ihre Schuld.
Anderenfalls hätte man doch ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet, keinen Zivilprozess,
von dem nur habgierige Hinterbliebene profitieren. Sie kann nichts dafür, auch
wenn Scarpetta den Geschworenen etwas anderes weismachen wollte.
(Die Szene im Gerichtssaal steht ihr überdeutlich
vor Augen.)
»Soll das bedeuten, dass Sie nicht in der Lage sind,
festzustellen, ob es sich bei diesem Tod durch Erhängen um Selbstmord oder um
Mord handelt?« Dr. Selfs Anwalt erhob anklagend die Stimme.
»Nicht ohne Zeugen oder äußere Umstände, die ein
klareres Licht auf die Ereignisse werfen«, entgegnete Scarpetta.
»Und die wären?«
»Indizien dafür, dass der Betreffende sich ohne
fremde Hilfe unmöglich so etwas hätte antun können.“
»Ein Beispiel bitte.«
»Nehmen wir einmal an, Sie finden eine Leiche vor,
die Hände auf dem Rücken gefesselt und an einem hohen Laternenmast auf einem
Parkplatz hängend, ohne dass irgendwo eine Leiter in Sicht wäre«, erwiderte
sie.
»Ist das ein wahres Ereignis, oder haben Sie das
gerade
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