Totenbuch
sich in diesem Irrglauben wiegt). Allerdings
kann Dr. Seif sich keine längere Abwesenheit leisten, denn die Rivalen stehen
bereits in den Startlöchern, um ihren Platz einzunehmen. Danach hat Dr. Seif
Dr. Paolo Maroni angerufen (als sie eine Überweisung erwähnte, wurde sie sofort
durchgestellt) und ist kurz darauf (verkleidet) in eine gemietete Limousine gestiegen
(einer ihrer eigenen Chauffeure kam nicht in Frage). Wenig später ist sie
(immer noch in Verkleidung) an Bord eines Privatjets gegangen und hat sich
heimlich ins McLean Hospital aufnehmen lassen, ein sicheres Versteck, wo sie
hoffentlich bald herausfinden wird, dass das Undenkbare nie geschehen ist.
Es muss einfach ein krankes Spiel sein. Er hat es
nicht getan. Verrückte legen oft falsche Geständnisse ab.
Und wenn nicht?
Dr. Seif muss vom Schlimmsten ausgehen: Man wird ihr
die Schuld geben. Es wird heißen, der Wahnsinnige habe sich nur ihretwegen auf
Drew Martin eingeschossen. Schließlich ist die Tennisspielerin, nachdem sie im
letzten Herbst die U.S. Open gewonnen hatte, in einigen von Dr. Selfs Shows
aufgetreten. Jene Folgen hatten unglaublich hohe Einschaltquoten. Und dann
auch noch die Exklusivinterviews! Wie viele denkwürdige Stunden hat Dr. Seif
mit Drew auf Sendung verbracht und mit ihr über das positive Denken gesprochen.
Darüber, wie man mit Hilfe der richtigen Techniken das eigene Leben in den Griff
bekommen und sich tatsächlich selbst entscheiden kann, ob man gewinnen oder
verlieren will. Nur so hat Drew es mit knapp sechzehn Jahren geschafft,
siegreich aus einem der wichtigsten Turniere der Tennisgeschichte
hervorzugehen. Dr. Selfs preisgekrönte Serie mit dem Titel Auch Sie können ein Sieger sein war ein phänomenaler Erfolg.
Ihr Puls beschleunigt sich, als ihr die furchtbare
E-Mail des Sandman wieder einfällt, und sie öffnet sie erneut, als ob sich
etwas daran verändern würde, wenn sie sie ein ums andere Mal betrachtet. Sie
enthält keinen Text, es ist nur eine angehängte Datei, ein grauenhaftes Foto
von Drew, wie sie nackt in einer grauen, in einen Terrakottaboden eingelassenen
Mosaikwanne sitzt. Das Wasser reicht ihr bis zur Taille, und wenn Dr. Seif das
hochaufgelöste Bild vergrößert, erkennt sie die Gänsehaut auf Drews Armen und
ihre blauen Lippen und Fingernägel, ein Hinweis darauf, dass das Wasser aus
dem alten Messinghahn eiskalt ist. Drews Haar ist nass, den Ausdruck auf ihrem
hübschen Gesicht kann man nur schwer beschreiben. Gequält? Benommen? Offenbar
steht sie unter Drogen.
In seinen früheren Mails hat der Sandman Dr. Seif
erklärt, im Irak sei es üblich gewesen, nackte Gefangene in Wasser zu tauchen,
sie zu schlagen, zu erniedrigen und sie zu zwingen, aufeinander zu urinieren.
Man hätte eben tun müssen, was nötig gewesen sei, schrieb er. Nach einer Weile
habe er sich daran gewöhnt und kein Problem mehr damit gehabt, seine Fotos zu
machen. Zumindest so lange, bis er diese eine
Sache getan habe. Allerdings hat er ihr
nie erzählt, was diese eine Sache war. Doch Dr. Seif ist überzeugt, dass seine Verwandlung
in ein Ungeheuer von besagtem Ereignis in Gang gesetzt worden ist. Falls er das
Undenkbare wirklich getan hat und es sich bei dem Bild nicht um eine
Fotomontage handelt.
Doch selbst dann ist er ein Ungeheuer, weil er ihr
so etwas antut.
Sie untersucht die Aufnahme auf Hinweise darauf,
dass sie eine Fälschung vor sich haben könnte, vergrößert und verkleinert sie,
wendet sie hin und her und starrt wie gebannt darauf. Nein, nein, nein, sagt sie
sich. Natürlich ist sie nicht echt. Und
wenn doch?
Ihre Gedanken drehen sich im Kreis. Wenn man sie für
diese Tat verantwortlich macht, ist es aus und vorbei mit ihrer Karriere.
Zumindest für absehbare Zeit. Ihre vielen Millionen Fans werden ihr die Schuld
geben, da sie es hätte vorhersehen müssen. Niemals hätte sie Drew in ihren
E-Mails an einen anonymen Patienten erwähnen dürfen, der sich selbst Sandman
nennt. Angeblich habe er Drew im Fernsehen gesehen, alles über sie gelesen und
hielte sie für ein nettes Mädchen, das aber unbeschreiblich einsam sei. Wenn er
sie nur kennenlernen könnte, würde sie sich sicher in ihn verlieben und nicht
mehr so traurig sein.
Falls es an die Öffentlichkeit gelangt, wird es so
kommen wie damals in Florida, nur mit viel drastischeren Folgen. Wieder wird
man sie mit ungerechten Vorwürfen überhäufen, und es wird eine gute Zeit
brauchen, bis Gras über die Sache gewachsen ist.
»Ich habe Drew gesehen
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