Totenbuch
erfunden?«, bohrte der Anwalt hämisch nach.
»1962. Ein
Lynchmord in Birmingham, Alabama«, wandte sich Scarpetta an die Geschworenen,
von denen einige schwarz sind.
Dr. Seif reißt sich von diesen Schreckensbildern los
und schließt die Datei auf ihrem Bildschirm. Dann greift sie zum Telefon und
ruft Benton Wesleys Büro an. Ihr Instinkt verrät ihr sofort, dass die fremde
Frau am Apparat noch jung ist und an Selbstüberschätzung und einem
unrealistischen Anspruchsdenken leidet. Offenbar stammt sie aus reicher
Familie, verdankt ihre Stelle guten Beziehungen und geht Benton ziemlich auf
die Nerven.
»Und Ihr Vorname, Dr. Seif?«, fragt die Frau, als
wüsste sie nicht genau, wer Dr. Seif ist. Schließlich kennt sie das ganze
Krankenhaus.
»Hoffentlich ist Dr. Wesley jetzt endlich im Haus«,
gibt Dr. Seif zurück. »Er erwartet meinen Anruf.«
»Er kommt erst gegen elf.« Als ob Dr. Seif eine
x-beliebige Anruferin wäre. »Dürfte ich den Grund Ihres Anrufs erfahren?«
»Schon gut. Ihren Namen bitte. Ich glaube, wir sind
uns noch nicht vorgestellt worden. Beim letzten Mal habe ich mit einer anderen
Dame gesprochen.«
»Sie ist nicht mehr bei uns.«
»Ihr Name?«
»Jackie Minor. Dr. Wesleys neue
Forschungsassistentin.« Ihr Tonfall wird selbstgefällig. Wahrscheinlich sitzt
sie noch immer an ihrer Doktorarbeit, die wohl niemals fertig werden wird.
Dr. Seif lässt ihren Charme spielen. »Gut, dann
danke ich Ihnen vielmals, Jackie. Wie ich annehme, besteht Ihre Aufgabe darin,
Dr. Wesley bei seinem neuen Forschungsprojekt zu unterstützen. Wie heißt es
noch einmal? Dorsolateral Aktivierung durch mütterliche Nörgelei? Abgekürzt
DAMN? Das zeugt von Sinn für Humor. Wie sagte noch einmal ein großer Dichter
... mal sehen, ob ich das Zitat noch hinkriege: Humor ist das Talent, etwas wahrzunehmen und es in ein
Bild zu fassen. Oder so ähnlich. Ich
glaube, es stammt von Alexander Pope. Sicher werden wir uns sehr bald kennenlernen,
Jackie. Wie Sie vielleicht wissen, nehme ich an dieser Studie teil.«
»Mir war gleich klar, dass es um etwas Wichtiges
geht. Deshalb ist Dr. Wesley ja übers Wochenende geblieben und hat mich gebeten,
ebenfalls zum Dienst zu kommen.«
»Sicher ist es eine große Herausforderung, für ihn
zu arbeiten.«
»Ganz richtig.«
»Schließlich genießt er einen weltweiten Ruf.«
»Deshalb wollte ich ja als Forschungsassistentin bei
ihm anfangen. Ich bin gerade im praktischen Jahr meiner Facharztausbildung zur
forensischen Psychologin.«
»Ausgezeichnet! Wunderbar. Vielleicht lade ich Sie
eines Tages in meine Sendung ein.«
»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«
»Tja, das sollten Sie aber, Jackie. Ich arbeite
gerade an einem neuen Konzept mit dem Titel Die Geheimnisse des Schreckens. Es behandelt die Aspekte des Verbrechens, die den meisten
Menschen verborgen bleiben: Was geht im Kopf eines Straftäters vor?«
»Inzwischen interessiert sich die Öffentlichkeit für
nichts anderes mehr«, stimmt Jackie zu. »Sie brauchen nur den Fernseher anzuschalten.
Alles dreht sich um Verbrechen.«
»Und deswegen überlege ich mir, ob ich in meiner
Produktionsfirma nicht besser Fachberater beschäftigen sollte.«
»Ich stelle mich gern und jederzeit für ein Gespräch
über dieses Thema zur Verfügung.«
»Haben Sie schon einmal einen Gewaltverbrecher
befragt oder einem von Dr. Wesleys Diagnosegesprächen beigewohnt?«
»Noch nicht. Aber ich bin schon ganz gespannt
darauf.«
»Sicher werden wir uns bald persönlich kennenlernen,
Dr. Minor. Sie haben doch schon promoviert, oder?«
»Sobald ich die nötigen Scheine beisammenhabe und
die Zeit finde, mich um meine Dissertation zu kümmern. Die Abschlussfeier ist
schon in Planung.«
»Das kann ich mir denken. Immerhin handelt es sich
um einen der wichtigsten Augenblicke im Leben.«
Früher einmal waren in dem verputzten Anbau - heute
das Computerlabor - hinter dem Backsteingebäude, das den Autopsiesaal
beherbergt, die Pferde samt Stallburschen untergebracht.
Zum Glück hatte jemand den Einfall, ihn in eine
Kombination aus Garage und Lagerraum zu verwandeln, bevor es Denkmalschutzbehörden
gab, die Einspruch dagegen hätten erheben können, und so dient er Lucy nun als
- wie sie es nennt - provisorische Zentrale. Das Gebäude ist klein und
spartanisch ausgestattet. Am anderen Ufer des Cooper River, wo Land im
Überfluss vorhanden ist und die Behörden mit Baugenehmigungen nur so um sich
werfen, laufen die Arbeiten an dem neuen
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