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Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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dich hierher mitzunehmen.«
    Sie schaut in eine Kamera, lächelt und winkt.
    »Hör auf damit«, zischt er.
    »Wer soll uns schon groß sehen? Ist doch niemand da
außer uns. Aus welchem Grund sollte die große Chefin sich je die Bänder anschauen?
Sonst wären wir ja nicht hier, oder? Du hast eine Scheißangst vor ihr. Ein
starker Kerl wie du! Es kotzt mich an. Du hast mich doch nur reingelassen, weil
dieser bescheuerte Typ vom Bestattungsinstitut einen Platten hatte und die
große Chefin deshalb erst später hier aufkreuzt. Kein Schwein wird sich diese
Bänder ansehen.« Grinsend winkt sie in eine andere Kamera. »Ich bin sehr
telegen. Warst du schon mal im Fernsehen? Mein Daddy war oft im Fernsehen. Er
ist in seinen eigenen Werbespots aufgetreten. In manchen habe ich auch
mitgespielt. Vielleicht hätte ich ja beim Fernsehen Karriere machen können.
Aber wer will schon ständig von fremden Leuten angeglotzt werden?«
    »Du meinst, wer außer dir?« Er klopft ihr auf den
Hintern.
    Die Büros liegen im Parterre. Marino hat noch nie
ein so elegantes Büro gehabt. Kernholzparkett, Zierleisten an den Wänden,
Stuck. »Im neunzehnten Jahrhundert war mein Büro vermutlich das Esszimmer«,
erklärt er Shandy, als sie eintreten.
    »Unser Esszimmer in Charlotte war zehnmal so groß.«
    Shandy ist noch nie in
diesem Gebäude, geschweige denn in seinem Büro gewesen. Marino würde es
normalerweise nie wagen, Scarpetta um Erlaubnis zu fragen, weil er sich nicht
in die Nesseln setzen will. Doch nach dieser wilden Nacht mit Shandy, als sie
ihn wieder einmal damit gehänselt hatte, dass er ja nur Scarpettas Sklave sei,
war sein fester Entschluss ins Wanken geraten. Zu allem Überfluss rief kurz
darauf Scarpetta selbst an, um ihm mitzuteilen, der Bestattungsunternehmer
Lucious Meddick habe eine Autopanne und würde sich deshalb verspäten. Natürlich
musste Shandy ihn auch deswegen aufziehen. Immer weiter hat sie auf dem Thema
herumgehackt, Marino würde für nichts und wieder nichts durch die Gegend
gehetzt. Jetzt sei doch eigentlich der richtige Zeitpunkt, ihr alles zu zeigen,
denn schließlich bettle sie ihn schon die ganze Woche an. Immerhin sei sie
seine Freundin und habe deshalb das Recht, seinen Arbeitsplatz zu sehen. Und so
hat er sich zu guter Letzt breitschlagen lassen.
    »Das sind echte Antiquitäten«, prahlt er. »Aus
Gebrauchtwarenläden. Doc Scarpetta hat sie eigenhändig restauriert. Toll, oder?
Zum ersten Mal im Leben sitze ich an einem Schreibtisch, der älter ist als
ich.«
    Shandy lässt sich auf dem
mit Leder bezogenen Bürostuhl hinter dem Schreibtisch nieder und beginnt, die
Schubladen aufzuziehen.
    »Rose und ich haben viel Zeit damit verbracht, das
Haus zu erkunden und uns zu fragen, welcher Raum früher wozu gedient hat. Wir
sind ziemlich sicher, dass ihr Büro einmal das Elternschlafzimmer gewesen ist.
Und der größte Raum, Doc Scarpettas Büro, war damals das Wohnzimmer.«
    »So ein Schwachsinn!« Shandy starrt in eine
Schublade. »Wie kannst du hier etwas finden? Anscheinend stopfst du alles bloß
in die Schubladen, weil du zu faul bist, die Papiere abzuheften.«
    »Ich weiß genau, wo was ist, nämlich nach meinem
eigenen System in Schubladen geordnet. Ungefähr so wie in der Arbeitslehre von
John Dewey.«
    »Und wo hast du dann deinen Karteikasten, du Held?«
    »Da drin.« Er tippt sich an den kahlen, glänzenden
Schädel.
    »Hast du vielleicht einen spannenden Mordfall hier?
Oder etwa ein paar Fotos?«
    »Nein.«
    Sie steht auf und zupft ihre Lederhose zurecht.
»Also hat die große Chefin das Wohnzimmer gekriegt. Ich will es sehen.«
    »Nein. Dort gibt es für dich sowieso nichts
Interessantes. Nur Bücher und ein Mikroskop.«
    »Wetten, dass sie in ihrem Wohnzimmer ein paar
spannende Mordfälle hat?«
    »Nein. Heikle Fälle werden bei uns weggeschlossen.
Mit anderen Worten: die, die du wahrscheinlich spannend finden würdest.«
    »In einem Haus sind doch alle Zimmer zum Wohnen da. Warum
heißt es dann Wohnzimmer?« Shandy lässt einfach nicht locker. »So ein
Blödsinn.«
    »Früher unterschied man zwischen dem Wohnzimmer und
dem Salon«, erklärt Marino, blickt sich stolz in seinem Büro um, betrachtet
die Diplome an den vertäfelten Wänden, das dicke Wörterbuch, das er nie zu
Rate zieht, und all die anderen unbenutzten Nachschlagewerke, die Scarpetta ihm
vermacht hat, weil sie inzwischen die neueren, überarbeiteten Ausgaben
besitzt. Natürlich sind da auch seine Bowling-Pokale, alle

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