Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
das meine ich ernst.«
    »Schließlich sehe ich nicht zum ersten Mal eine
Leiche«, gibt sie zurück.
    Die Aufzugtüren öffnen sich, und sie steigen aus dem
Lift. »Mein Vater ist vor den Augen der ganzen Familie an einem Stück Steak
erstickt«, sagt Shandy.
    »Dahinten links ist die Umkleide.« Marino zeigt mit
dem Finger. »Links? Von wo aus betrachtet?«
    »Die erste Tür, wenn du um die Ecke biegst. Hol dir
einen Kittel, und zwar flott.«
    Shandy geht los. In einem
Abschnitt des Monitors kann Benton sie in der Umkleide - Scarpettas Umkleide -
sehen. Sie nimmt einen blauen Kittel - Scarpettas - aus einem Spind - ebenfalls
Scarpettas - und streift ihn hastig über. Verkehrt herum. Marino wartet auf
dem Flur. Mit offenem, flatterndem Kittel läuft sie auf ihn zu.
    Wieder eine Tür. Sie führt auf die Rampe, wo Marinos
und Shandys Motorräder in einer mit einem Pylon abgesperrten Ecke parken. Ein
Leichenwagen steht da, und zwar mit laufendem Motor, dessen Geräusch sich an
den alten Backsteinmauern bricht. Ein Mann steigt aus. In seinem Anzug und
einer Krawatte, die so schwarz glänzt wie der Lack des Leichenwagens, wirkt er
steif und unbeholfen. Seine magere Gestalt entfaltet er wie die ausklappbaren
Beine einer Rollbahre. Offenbar wird er den Gerätschaften, mit denen er seinen
Lebensunterhalt verdient, immer ähnlicher. Benton stellt fest, dass er die
Hände merkwürdig verkrümmt wie Klauen.
    »Ich bin Lucious Meddick.« Er öffnet die Heckklappe.
»Wir haben uns letztens kennengelernt, als der tote kleine Junge aus dem Sumpf
gefischt wurde.« Er streift ein Paar Latexhandschuhe über. Benton bemerkt, dass
er eine Zahnschiene aus Plastik und am rechten Handgelenk ein Gummiband trägt.
    »Näher auf seine Hände«, weist er Lucy an.
    Sie holt das Bild dichter heran. »Ja, ich weiß«,
sagt Marino währenddessen in einem Ton, als könnte er den Mann nicht
ausstehen.
    Benton sieht, dass Meddick wunde Fingerspitzen hat.
»Ein starker Nägelkauer«, sagt er zu Lucy. »Eine Form von Selbstverstümmelung.«
    »Gibt es zu diesem Fall etwas Neues?«, erkundigt
Lucious sich nach dem kleinen Jungen, der Bentons Wissen nach noch immer
unidentifiziert im Autopsiesaal liegt.
    »Das geht Sie nichts an«, entgegnet Marino. »Wenn es
für die Öffentlichkeit bestimmt wäre, hätten die Nachrichten es gebracht.«
    »Meine Herren«, kommentiert Lucy. »Er klingt ja wie
Tony Soprano.«
    »Offenbar haben Sie eine Radkappe verloren.« Marino
weist auf das linke Hinterrad des Leichenwagens.
    »Es ist ein Ersatzrad«, antwortet Lucious spitz.
    »Verdirbt doch irgendwie den Effekt«, erwidert
Marino. »So eine tolle Kiste, und dann ein Rad, wo man die hässlichen Schrauben
sieht.«
    Missmutig öffnet Lucious die Heckklappe und zieht
die Bahre auf Rollen aus dem Leichenwagen. Faltbare Aluminiumbeine klappen
herunter und rasten ein. Marino rührt keinen Finger, als Lucious die Bahre mit
dem schwarzen Leichensack die Rampe hinaufschiebt, gegen den Türrahmen prallt
und einen Fluch ausstößt.
    Marino zwinkert Shandy zu. Diese gibt mit ihrem
offenen Kittel und den schwarzen Motorradstiefeln ein ziemlich seltsames Bild
ab. Ungeduldig lässt Lucious die Leiche in ihrem Sack mitten auf dem Flur
stehen. Das Gummiband am Handgelenk schnalzt. Dann verkündet er laut und in gereiztem
Ton: »Jetzt muss ich mich um den Papierkram kümmern.«
    »Leise!«, mahnt Marino. »Sonst wecken Sie noch
jemanden auf.«
    »Keine Zeit für Scherze.« Lucious will gehen.
    »Sie bleiben jetzt schön hier und helfen mir, die
Leiche von Ihrer Bahre auf eine unserer Tragen zu hieven.«
    »Er macht sich wichtig«, sagt Lucy zu Benton.
»Offenbar will er bei seiner Kartoffelchip-Schlampe Eindruck schinden.«
    Marino zieht einen Rollwagen aus der Kühlkammer. Er
ist ziemlich zerkratzt und wackelig, und eines der Räder steht schief wie bei
einem altersschwachen Einkaufswagen im Supermarkt. Dann heben er und ein
sichtlich verärgerter Lucious die Leiche darauf.
    »Ihre Chefin ist ziemlich anstrengend«, sagt
Lucious. »Da fällt einem gleich ein Wort ein, das mit Z anfängt.«
    »Niemand hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt. Oder
hast du vielleicht etwas gehört?« Der letzte Satz richtet sich an Shandy.
    Sie starrt nur auf den Leichensack und achtet nicht
auf ihn.
    »Was kann ich denn dafür, wenn sie ihre Adresse
nicht richtig angibt? Jedenfalls hat sie sich aufgeführt, als wäre es meine
Schuld, als ich bei ihr aufgekreuzt bin. Ich wollte doch nur meine Arbeit
machen.

Weitere Kostenlose Bücher