Totenbuch
Großprojekt währenddessen auf
Hochtouren. Dort entsteht Lucys neues kriminaltechnisches Labor, ausgerüstet
mit allem, was das Herz eines Wissenschaftlers höher schlagen lässt.
Fingerabdruckanalysen, Toxikologie und die Untersuchung von Feuerwaffen,
Faserspuren und DNA können bereits durchgeführt werden. Bald wird das FBI
Augen machen! Lucy wird es ihnen allen zeigen.
Das Computerlabor mit seinen Backsteinwänden und dem
Dielenboden wird von kugelsicheren Fenstern vor der Außenwelt geschützt. Die
Jalousien sind immer heruntergelassen. Lucy sitzt an ihrem Terminal, das mit
einem Hochleistungsserver verbunden ist. Dieser ruht in einem Rahmen aus sechs
U-förmigen Stützen. Das Betriebssystem hat sie selbst entworfen, und zwar auf
der Basis der einfachsten Computersprache, damit sie selbst mit dem Motherboard
kommunizieren kann, während sie ihre eigene Cyberwelt erschafft. Sie nennt
dieses System Infinity of Inner Space (IIS) und hat den Prototyp für eine unanständig
hohe Summe verkauft. Aber Lucy redet nicht gern über Geld.
An den Wänden hängen Flachbildschirme, die
ununterbrochen jede Einstellung und jedes Geräusch wiedergeben, das von den
drahtlosen Kameras und versteckten Mikrophonen eingefangen wird. Und das, was
Lucy jetzt sieht, verschlägt ihr die Sprache.
»Du blödes Arschloch!«, brüllt sie den Bildschirm
vor sich an.
Marino führt Shandy Snook im Autopsiesaal herum. Die
Monitore zeigen sie aus unterschiedlichen Winkeln, und ihre Stimmen sind so
deutlich zu hören, als befände Lucy sich mit ihnen im selben Raum.
In Boston sitzt Benton an seinem Schreibtisch im
vierten Stock eines Backsteingebäudes aus dem neunzehnten Jahrhundert in der
Beacon Street. Er blickt aus dem Fenster und beobachtet einen Fesselballon,
der über die Wiese und über die Wipfel der schottischen Ulmen hinwegschwebt,
die so alt sind wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Langsam erhebt sich
der weiße Ballon in den Himmel und hängt wie ein riesiger Mond über den
Dächern der Innenstadt.
Sein Mobiltelefon läutet. Wesley schaltet auf sein
Bluetooth-Headset, meldet sich mit seinem Namen und hofft inständig, Dr. Seif
möge nicht wieder irgendeinen Notfall provoziert haben, denn derzeit hält sie
das ganze Krankenhaus auf Trab und könnte das Institut möglicherweise in große
Schwierigkeiten bringen.
»Ich bin es«, hört er Lucys Stimme im Ohr. »Klick
deinen Zugang zu unserem Überwachungssystem an. Ich stelle eine Konferenzschaltung
her.«
Benton tut es, ohne nach dem Grund zu fragen. Lucys
drahtloses Netzwerk überträgt Bild, Ton und Daten in Echtzeit. Auf dem Bildschirm
seines Laptops sieht er ihr Gesicht. Sie wirkt genauso frisch, hübsch und
strotzend von Tatendrang wie immer. Doch ihre Augen funkeln zornig.
»Ich probiere gerade etwas Neues aus«, erklärt sie,
»nämlich, dich mit den Überwachungskameras zu vernetzen, damit du dasselbe
siehst wie ich gerade. Einverstanden? Dein Bildschirm müsste sich jetzt in vier
Quadranten aufteilen, damit du dir, abhängig davon, was ich auswähle, vier
Aufnahmen gleichzeitig anschauen kannst. Das sollte dir einen guten Eindruck
davon vermitteln, was unser sogenannter Freund Marino gerade so treibt.«
»Es funktioniert«, bestätigt Benton, auf dessen
Monitor simultan vier Kameraeinstellungen, alles Ansichten aus Scarpettas Bürogebäude,
zu erkennen sind.
Im Autopsiesaal gellt eine Sirene.
Oben links sind Marino und eine junge Frau - sexy,
aber billig - in Motorradkluft im oberen Flur vor Scarpettas Büro zu sehen. »Du
bleibst hier, bis die Leiche eingeliefert wurde«, sagt er gerade zu ihr.
»Warum kann ich nicht mitkommen? Ich habe keine
Angst.« Ihre Stimme - heiser, starker Südstaatenakzent - hallt klar und
deutlich aus den Lautsprechern auf Bentons Schreibtisch.
»Was zum Teufel soll das?«, fragt Benton Lucy am
Telefon.
»Schau einfach nur zu«, erwidert sie. »Das ist seine
neueste Zuckerpuppe.«
»Seit wann?«
»Ach, lass mich überlegen. Ich glaube, sie gehen
seit Montag miteinander ins Bett. Das war der Abend, als sie sich kennengelernt
und sich zusammen betrunken haben.«
Marino und Shandy treten in den Aufzug, und eine
andere Kamera übernimmt, als er zu ihr sagt: »Okay. Aber falls er uns bei Doc
Scarpetta verpetzt, kann ich einpacken.«
»Die Alte hat dich wohl mächtig an den Eiern«,
spottet sie.
»Ich gebe dir einen Kittel, den du über die
Lederkluft ziehen kannst. Du hältst den Mund und rührst dich nicht. Keinen
Mucks, und
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