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Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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antwortet er Shandy.
    »Ich schaff das schon. Außerdem habe ich ein Recht
darauf. Keine Geheimnisse. So lautet unsere Abmachung. Also beweise mir, dass
du keine Geheimnisse vor mir hast.« Sie kann den Blick nicht von dem
Leichensack abwenden.
    »Nein. Bei solchen Sachen gilt die Abmachung nicht.«
    »Oh, doch. Und beeil dich. Ich frier mir hier drin
den Arsch ab.«
    »Und wenn Doc Scarpetta es rauskriegt...«
    »Jetzt fängst du schon wieder damit an. Du hast eine
Scheißangst vor ihr und führst dich auf, als wärst du ihr Privateigentum. Was
ist denn so schlimm, dass du glaubst, ich könnte es nicht aushalten?«
Inzwischen überschlägt sich Shandys Stimme fast vor Wut, und sie hat wegen der
Kälte die Arme um den Leib geschlungen. »Ich wette, dass er nicht so stinkt wie
die alte Frau.«
    »Er wurde gehäutet, und man hat ihm die Augäpfel
entfernt«, erklärt Marino.
    »Verarsch mich nicht!«, kreischt Shandy. »Lass mich
mit deinen Witzen in Ruhe. Du zeigst ihn mir jetzt sofort! Es kotzt mich an,
dass du ständig einknickst und nach ihrer Pfeife tanzt.«
    »Das war kein Witz! Was hier passiert, ist bitterer
Ernst. Das versuche ich dir schon die ganze Zeit klarzumachen. Du hast ja keine
Ahnung, womit ich hier zu tun habe.«
    »Ach, ist ja spitze! Allein bei der Vorstellung,
dass deine tolle Chefin kleinen Kindern die Haut abzieht und ihnen die Augen
rausschneidet, gruselt es mir. Du behauptest doch immer, dass sie so gut mit
den Toten umgeht. Die Frau ist ja nicht besser als die Nazis. Die haben
nämlich auch Menschen gehäutet und sie dann zu Lampenschirmen verarbeitet«,
stößt Shandy hasserfüllt hervor.
    »Manchmal kann man erst feststellen, ob es sich bei
einer dunklen oder geröteten Stelle wirklich um einen Bluterguss handelt, wenn
man sich die Haut von unten anschaut. Nur auf diese Weise kann man sichergehen,
ob man ein geplatztes Blutgefäß - mit anderen Worten: einen Bluterguss - oder livor mortis vor sich
hat«, erläutert Marino selbstgefällig.
    »Ich traue meinen Ohren nicht«, sagt Lucy zu Benton.
»Seit wann ist er denn der Chefpathologe?«
    »Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung«,
erwidert Benton. »Massive Verunsicherung. Bedrohungsgefühle. Abneigung. Überkompensation.
Außerdem baut er von Tag zu Tag ab. Was mag nur mit ihm los sein?«
    »Ich glaube, es liegt an dir und Tante Kay.«
    »Ich verstehe kein Wort von dem Gelaber.« Shandy
starrt auf den schwarzen Leichensack.
    »Wenn der Blutkreislauf zum Erliegen kommt und das
Blut stockt, führt das zu Hautrötungen, die man leicht mit einem frischen
Bluterguss verwechseln kann. Es gibt auch eine Reihe weiterer Erscheinungen,
die wie Verletzungen aussehen, aber meistens erst nach dem Tod eingetreten sind.
Ziemlich kompliziert also«, antwortet Marino prahlerisch. »Um auf Nummer sicher
zu gehen, klappt man die Haut deshalb mit einem Skalpell zurück« - er vollführt
eine rasche Handbewegung - »und wirft einen Blick auf die Unterseite. In diesem
Fall waren es tatsächlich Blutergüsse. Der kleine Junge war von oben bis unten
damit übersät.«
    »Und warum entfernt man die Augäpfel?«
    »Um sie eingehend zu untersuchen. Auf Blutungen zum
Beispiel, wie beim Shaking-Baby-Syndrom. Mit dem Gehirn ist es dasselbe. Das
wurde in einen Behälter mit Formalin eingelegt. Doch der steht nicht hier,
sondern irgendwo in einer Uniklinik, wo spezielle Experimente durchgeführt
werden.«
    »Oh, mein Gott. Sein Gehirn ist in einem Behälter?«
    »So wird das eben gemacht. Man muss es chemisch aufbereiten,
damit es nicht verwest und gründlich untersucht werden kann. Das ist so ähnlich
wie Einbalsamieren.«
    »Du kennst dich wirklich gut aus. Du solltest hier
der Arzt sein, nicht sie. Und jetzt lass mich mal schauen.«
    Dieses Gespräch findet in der Kühlkammer bei weit
geöffneter Tür statt.
    »Als ich mit diesem Beruf angefangen habe, warst du
wahrscheinlich noch gar nicht geboren«, sagt Marino. »Klar, ich hätte auch
Arzt werden können, aber wer hat schon Lust, so lange zu studieren? Außerdem
möchte ich nicht mit ihr tauschen. Sie hat kein Privatleben und gibt sich den
ganzen Tag nur mit Toten ab.«
    »Ich will ihn sehen.« Shandy ist unerbittlich.
    »Keine Ahnung, woran es liegt, aber immer wenn ich
in einer Kühlkammer bin, brauche ich unbedingt eine Zigarette«, antwortet
Marino.
    Sie kramt in der Tasche der Lederweste, die sie
unter dem Kittel trägt, und fördert ein Zigarettenpäckchen und ein Feuerzeug zutage.
»Ich kapiere nicht,

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