Totenbuch
er identifiziert werden kann. Von der Kühlkammer wird sie
ihn in eine Art Zeitkapsel verlegen, einen isolierten Gefrierschrank aus
Polyurethan, heruntergekühlt auf minus fünfundsechzig Grad. Wenn nötig, kann er
jahrelang dort liegen. Scarpetta schließt die schwere Stahltür der Kühlkammer
und tritt in den hellen, nach Lufterfrischer riechenden Flur hinaus. Dabei
öffnet sie den Gürtel ihres blauen Kittels und streift die Handschuhe ab. Ihre
Einweg-Schuhhüllen rascheln leise auf dem blitzblanken Fliesenboden.
Dr. Self sitzt in ihrem
Zimmer mit Aussicht und telefoniert noch einmal mit Jackie Minor, denn
inzwischen ist es fast zwei Uhr nachmittags, ohne dass Benton sich die Mühe
gemacht hätte, sie zurückzurufen.
»Er weiß genau, dass wir die Sache hinter uns
bringen müssen. Warum, glauben Sie, ist er sonst übers Wochenende hiergeblieben
und hat Sie gebeten, zum Dienst zu erscheinen? Bekommen Sie die Überstunden
eigentlich bezahlt?« Dr. Seif lässt sich nicht anmerken, wie verärgert sie
ist.
»Ich weiß nur, dass da plötzlich VIP stand. Mehr
verrät man uns nie, wenn ein Prominenter erwartet wird. Wir haben hier übrigens
häufig berühmte Persönlichkeiten. Wie haben Sie denn eigentlich von der Studie
erfahren?«, erkundigt sich Jackie. »Ich muss danach fragen und Buch darüber
führen, weil es uns interessiert, welche Form von Werbung am besten wirkt -
Zeitungsannoncen, Radiospots, Aushänge, Mundpropaganda.«
»Durch den Aushang am Empfang. Ich habe ihn gleich
bei der Anmeldung bemerkt. Warum
nicht?, habe ich mir da gedacht. Allerdings
habe ich inzwischen beschlossen, so bald wie möglich abzureisen. Ein Jammer,
dass man Ihnen das Wochenende verdorben hat«, sagt Dr. Seif.
»Offen gestanden ist es gut so. Es ist nämlich schwierig,
Freiwillige zu finden, die die Bedingungen erfüllen, insbesondere bei den
Normalen. Reine Zeitverschwendung. Mindestens zwei von dreien entpuppen sich
nämlich als nicht normal. Aber wenn man es genauer bedenkt: Warum sollte
jemand herkommen, wenn er normal ist, und ...«
»... an einem Forschungsprojekt teilnehmen«, beendet
Dr. Seif Jackies Satz. Offenbar ist Jackie keine Intelligenzbestie. »Als Normaler kann man
sich natürlich nicht bei Ihnen anmelden.«
»Oh, ich wollte damit natürlich nicht andeuten, dass
Sie nicht...«
»Ich bin stets offen für neue Erfahrungen und habe
außerdem einen ungewöhnlichen Grund dafür, dass ich hier bin«, erwidert Dr.
Seif. »Sicher ist Ihnen klar, dass Sie das absolut vertraulich behandeln
müssen.«
»Ich habe gehört, Sie seien aus Sicherheitsgründen
hier untergebracht.«
»Haben Sie das von Dr. Wesley?«
»Nur ein Gerücht. Und Vertraulichkeit ist
Ehrensache. Schließlich sind wir ja an das Datenschutzabkommen der
amerikanischen Krankenversicherer gebunden. Also können Sie sich gefahrlos abmelden,
wann immer sie wollen.«
»Hoffentlich.«
»Wissen Sie, worum es bei dieser Studie genau geht?«
»Nur das, was in dem Aushang stand«, antwortet Dr.
Seif.
»Ist Dr. Wesley es nicht mit Ihnen durchgegangen?«
»Er wurde erst am Freitag informiert, als ich Dr.
Maroni, der sich derzeit in Italien aufhält, mitgeteilt habe, dass ich gern an
der Studie teilnehmen würde. Allerdings müsste es sofort sein, da ich
beschlossen habe abzureisen. Sicher plant Dr. Wesley, mich eingehend zu
instruieren, weshalb ich nicht verstehe, warum er sich noch nicht gemeldet hat.
Hat er womöglich meine Nachricht nicht erhalten?«
»Ich habe es ihm ausgerichtet. Doch er ist ein
vielbeschäftigter Mann. Soweit ich im Bilde bin, sollen heute die Tonbandaufnahmen
mit der Mutter des VIP stattfinden. Wahrscheinlich wollte er das zuerst
erledigen. Danach wird er sich bestimmt sofort mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Vermutlich schränkt es sein Privatleben stark ein,
dass er seine Wochenenden wegen irgendwelcher Studien hier im Institut verbringen
muss. Allerdings bin ich überzeugt, dass er eine Freundin hat. Ein so
attraktiver und gebildeter Mann wie er bleibt sicher nicht lang allein.«
»Sie lebt irgendwo in den Südstaaten. Vor einem
Monat war ihre Nichte hier.«
»Wie interessant«, bemerkt Dr. Seif.
»Sie hat eine Computertomographie durchführen
lassen. Sicher ist diese Lucy so eine Art Geheimagentin. Jedenfalls gebärdet
sie sich so. Ich weiß, dass sie eine Computerfirma hat und mit Josh befreundet
ist.«
»Arbeitet in der Verbrechensbekämpfung«, ergänzt Dr.
Seif. »Verdeckte Einsätze, ausgestattet mit allem technischen
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