Totenbuch
häufig ins Ausland gereist.
Ziel war es, ihn zu einem Mann von Welt zu erziehen, mehrsprachig, mit
ausgezeichneten Umgangsformen und hoch gebildet. Aus ihm sollte einmal etwas
Besseres werden, lautete der Wahlspruch seiner Eltern. Nun beobachtet er zwei
dicke schneeweiße Möwen, die auf einem Sims dicht neben seinem Tisch sitzen und
ihn beäugen. Vielleicht haben sie es auf den Beluga-Kaviar abgesehen.
»Ich frage dich, wo sie ist«, sagt er auf
Italienisch. »Und du antwortest mir mit einem Hinweis auf einen Mann, über den
ich im Bilde sein müsste, ohne mir Einzelheiten zu verraten? Ich finde das
ziemlich enttäuschend.«
»Ich meinte damit Folgendes«, erwidert Dr. Paolo
Maroni, der den Capitano schon seit Jahren kennt. »Dr. Seif hatte Drew Martin,
wie du weißt, in ihre Show eingeladen. Einige Wochen später erhielt Dr. Seif
E-Mails von einer schwer gestörten Person. Darüber bin ich informiert, weil sie
den Betreffenden an mich überwiesen hat.«
»Paolo, bitte, ich brauche weitere Details über
diese gestörte Person.«
»Ich habe gehofft, du hättest sie bereits.«
»Habe ich vielleicht das Thema angeschnitten?«
»Du ermittelst in diesem Fall«, erwidert Dr. Maroni.
»Und dennoch bin ich offenbar besser informiert als du. Das ist jammerschade.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagten.«
»Ich würde es zwar öffentlich nicht zugeben, aber
wir treten auf der Stelle. Deshalb musst du mir unbedingt mehr über diese gestörte
Person verraten. Außerdem kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass du
mich an der Nase herumführen willst.«
»Wenn du mehr wissen möchtest, musst du selbst mit
ihr sprechen. Da er nicht ihr Patient ist, kann sie offen über ihn reden - vorausgesetzt,
dass sie dazu bereit ist.« Er greift nach der Silberplatte mit den Blini. »Aber
das sind alles nichts weiter als Spekulationen.«
»Dann hilf mir, sie zu finden«, drängt Capitano
Poma. »Ich habe nämlich so ein Gefühl, dass du weißt, wo sie ist. Deshalb hast
du mich aus heiterem Himmel angerufen und dich selbst zu diesem teuren
Abendessen eingeladen.«
Dr. Maroni lacht. Er könnte sich ganze Wagenladungen
von diesem ausgezeichneten russischen Kaviar leisten, hat also keinen Grund,
beim Capitano ein Abendessen zu schnorren. Doch er hat nicht nur Informationen,
sondern - wie immer - eine ganze Reihe von komplizierten Hintergedanken und
Plänen. Dr. Maroni besitzt das Talent, die Schwächen und Beweggründe seiner
Mitmenschen zu durchschauen, und ist vermutlich der klügste Mann, den der
Capitano je kennengelernt hat. Allerdings bleibt er ihm weiterhin ein Rätsel,
ein Mensch, der sich anmaßt, die Wahrheit nach seinem Gutdünken auszulegen.
»Ich kann dir nicht sagen, wo sie ist«, erkärt Dr.
Maroni.
»Was jedoch nicht bedeutet, dass du es nicht weißt.
Verschon mich mit deinen Wortspielen, Paolo. Schließlich war ich nicht faul und
habe Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um sie aufzuspüren. Seit ich
erfahren habe, dass sie Drew kannte, habe ich mit ihren Mitarbeitern
gesprochen, die immer nur gebetsmühlenartig wiederholen, was schon in den
Nachrichten kam: In ihrer Familie gab es einen geheimnisvollen Notfall.
Niemand weiß, wo sie steckt.«
»Auch wenn niemand schon allein nach den Gesetzen der Logik nicht stimmen
kann.«
»Richtig«, erwidert der Capitano, bedeckt ein Blini
mit Kaviar und reicht es ihm. »Und ich habe so ein Gefühl, dass du mir bei der
Suche helfen wirst. Denn wie ich bereits festgestellt habe, bist du im Bilde
und hast mich aus diesem Grund angerufen. Warum also die Wortklaubereien?«
»Haben ihre Mitarbeiter deine E-Mails
weitergeleitet, in denen du sie um ein Treffen oder zumindest um ein Telefonat
bittest?«, erkundigt sich Dr. Maroni.
»Angeblich.« Offenbar an einem anderen Tisch
interessiert, fliegen die Möwen weiter. »Auf gewöhnlichem Wege kann ich sie
nicht erreichen. Vermutlich antwortet sie nicht, weil es ihr gerade noch
gefehlt hat, in die Ermittlungen hineingezogen zu werden. Man könnte ihr
nämlich einen Teil der Schuld zuweisen.«
»Was wahrscheinlich auch richtig wäre. Sie verhält
sich nämlich verantwortungslos«, antwortet Dr. Maroni.
Der Weinkellner füllt ihre Gläser nach. Das
Dachgartenrestaurant des Hotels Hassler gehört zu Capitano Pomas Lieblingslokalen, denn er kann
von der wundervollen Aussicht nicht genug bekommen. Nun denkt er an Kay
Scarpetta und Benton Wesley und fragt sich, ob sie wohl je hier gegessen haben.
Sicher nicht. Sie waren viel zu
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