Totenbuch
entscheiden, dass die von ihm eingelieferte Frau eines natürlichen Todes
gestorben ist, und zwar an Herz- und
Atemstillstand. Allerdings tritt der Tod
immer dann ein, wenn Herz und Lungen den Dienst versagen, ganz gleich, ob man
nun erschossen, von einem Auto überfahren oder von einem Baseballschläger
getroffen wird. Eine unverschämte Überschreitung seiner Befugnisse, auf einen
natürlichen Tod zu erkennen. Schließlich muss Scarpetta die Leiche erst noch
obduzieren, während Lucious weder kompetent noch gesetzlich zuständig dafür
ist, derartige Diagnosen zu stellen. Seit wann ist dieser Mensch denn
Gerichtsmediziner? Außerdem sollte er gefälligst die Finger vom Register
lassen. Es will Scarpetta nicht in den Kopf, warum Marino dem Bestatter Zutritt
zum Autopsiesaal gewährt und ihn dort allein gelassen hat.
Ihr Atem bildet Wolken vor ihrem Mund, als sie ein
Klemmbrett von einem Wagen nimmt und die Daten der unbekannten Kinderleiche
sowie Uhrzeit und Datum einträgt. Die Ungeduld empfindet sie als ebenso beißend
wie die Kälte. Obwohl sie sich abmüht wie eine Besessene, kommt sie einfach
nicht dahinter, wo der kleine Junge gestorben ist, auch wenn sie den Verdacht
hat, dass es nicht weit vom Fundort der Leiche entfernt gewesen sein kann. Sie
kennt das genaue Alter des Toten nicht und weiß auch nicht, wie der Täter ihn
transportiert hat. Jedoch vermutet sie, dass ein Boot verwendet wurde. Bis
jetzt haben sich noch keine Zeugen gemeldet, und außer einigen weißen
Baumwollfasern konnten keine Spuren sichergestellt werden. Scarpetta nimmt an,
dass diese von dem Laken stammen, in das der Leichenbeschauer von Beaufort
County den Körper gewickelt hat, bevor er in den Leichensack gelegt wurde.
Sand, Salz, Muschelscherben und Pflanzenstückchen in
den Körperöffnungen und auf der Haut des Jungen stammen aus dem Sumpfgebiet, wo
man die nackte, verwesende Leiche bäuchlings in Schlamm und Sägegras entdeckt
hat. Obwohl Scarpetta tagelang versucht hat, den Toten unter Einsatz sämtlicher
ihr bekannter Methoden dazu zu bringen, seine letzten Geheimnisse zu verraten, hat
sie enttäuschend wenig erfahren. Der geschrumpfte Magen und die Auszehrung
weisen darauf hin, dass der Junge wochen- oder sogar monatelang hungern musste.
Die leicht deformierten Nägel lassen ein Nachwachsen in verschiedenen
Altersphasen vermuten, ein Indiz dafür, dass seine Finger und Zehen Schlägen
mit einem stumpfen Gegenstand oder anderen Misshandlungen ausgesetzt waren.
Rötliche Striemen überall am Körper sagen Scarpetta, dass der Junge geprügelt
wurde, und zwar erst vor kurzem mit einem breiten Gürtel, der über eine große
viereckige Schnalle verfügte. Einschnitte, das Zurückklappen der Haut und eine
mikroskopische Analyse haben Gewebeeinblutungen vom Scheitel bis zu den Sohlen
seiner kleinen Füße sichtbar gemacht. Er ist an inneren Blutungen gestorben - also verblutet, ohne dass äußerlich
auch nur ein Tröpfchen zu sehen gewesen wäre. Scarpetta erscheint das wie der
passende Abgesang für das Leben eines Menschen, dessen Leid nie jemand
wahrgenommen hat.
Sie hat Proben seiner Organe und der verletzten
Körperstellen in Formalin konserviert und sein Gehirn und die Augen in ein Speziallabor
geschickt. Außerdem hat sie Hunderte von Fotos gemacht und auch Interpol
verständigt, nur für den Fall, dass er irgendwo im Ausland als vermisst
gemeldet worden ist. Seine Finger- und Fußabdrücke wurden mit der
Fingerabdruck-Datenbank IAFIS und seine DNA mit dem DNA-Verzeichnis CODIS
verglichen. Und zu guter Letzt hat man alle Informationen in die landesweite
Datenbank für vermisste und misshandelte Kinder eingespeist. Natürlich
durchforstet Lucy derzeit das Internet. Bis jetzt jedoch sind alle Bemühungen
ergebnislos geblieben. Kein Hinweis darauf, dass der Junge entführt wurde, sich
verirrt hat, davongelaufen oder einem Kinderschänder zum Opfer gefallen ist.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er von einem Elternteil, einem anderen
Verwandten, Sorgeberechtigten oder einer sogenannten Aufsichtsperson zu Tode
gequält und an einem abgelegenen Ort zurückgelassen, um das Verbrechen zu
vertuschen. So etwas geschieht häufiger, als man denkt.
Obwohl Scarpetta in medizinischer oder
wissenschaftlicher Hinsicht nichts mehr für ihn tun kann, will sie ihn noch
nicht verloren geben. Sie wird nicht zulassen, dass man seine Leiche entbeint
und die Knochen - in einer Kiste - in einem Armengrab versenkt. Er wird hier
bei ihr bleiben, bis
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