Totenbuch
Dr. Maroni blickt in sein Weinglas, als erhoffe er sich von dort die Antwort.
»Verrate mir eines«, bittet ihn Capitano Poma. »Wenn
er wirklich unheilbar ist, stimmst du mir dann nicht zu? Dieser Mann ist
schwer gestört und könnte eine Gefahr bedeuten. Er schickt ihr E-Mails.
Vielleicht sogar die Mail, die sie bei ihrer Aufnahme ins McLean Hospital dir
gegenüber erwähnt hat.«
»Du meinst den VIP. Ich habe niemals behauptet, dass
Dr. Seif sich im McLean Hospital aufhält. Doch falls es sich so verhält, solltest
du der Sache unbedingt auf den Grund gehen. Offenbar ist das der springende
Punkt. Ich wiederhole mich wie eine Schallplatte mit einem Sprung.«
»Möglicherweise war diese E-Mail der Anlass, warum
der VIP voller Angst in deinem Krankenhaus Zuflucht gesucht hat. Wir müssen den
Mann aufspüren, um zumindest sicherzugehen, dass er kein Mörder ist.«
»Keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Wie
bereits gesagt, darf ich dir seine Identität nicht preisgeben. Nur so viel,
dass er Amerikaner ist und im Irak gedient hat.«
»Und warum hat er dich hier in Rom aufgesucht? Das
ist doch eine ziemlich weite Reise für einen Arzttermin.«
»Er litt an einem posttraumatischen Stresssyndrom
und hat offenbar Verwandtschaft in Italien. Außerdem erzählte er mir eine
ziemlich beunruhigende Geschichte über eine junge Frau, mit der er im
vergangenen Sommer einen Tag verbracht hatte. Unweit von Bari wurde eine Leiche
aufgefunden. Sicher erinnerst du dich an den Fall.«
»Die kanadische Touristin?«, fragt der Capitano.
»Mist!«
»Genau die. Allerdings konnte sie erst später
identifiziert werden.«
»Die Leiche war nackt und stark verstümmelt.«
»Nicht so wie Drew Martin, nach dem, wie du es mir
geschildert hast. Ihre Augen waren unversehrt.«
»Aber ihr fehlten ebenfalls größere Körperpartien.«
»Ja. Anfangs hielten wir sie für eine Prostituierte,
die aus einem fahrenden Wagen geworfen oder von einem Auto überrollt worden
war, und erklärten uns so die Wunden«, erwidert Dr. Maroni. »Doch die Autopsie
erbrachte ein anderes Ergebnis, denn sie wurde sehr fachkundig, obwohl unter
spartanischen Bedingungen, durchgeführt. Du weißt ja, wie es in der Provinz
ist. Überall fehlt es an Geld.«
»Insbesondere wenn es um eine Prostituierte geht.
Man hat sie auf dem Friedhof obduziert. Wenn nicht um diese Zeit eine kanadische
Touristin als vermisst gemeldet worden wäre, hätte man sie vermutlich anonym
beigesetzt«, ergänzt Capitano Poma.
»Man kam zu dem Schluss, dass die Körperpartien mit
einem Messer oder einer Säge herausgeschnitten wurden.«
»Und trotzdem willst du mir nicht alles sagen, was
du über diesen Patienten weißt, der bar bezahlt und einen falschen Namen
angegeben hat!«, protestiert der Capitano. »Du musst doch irgendwelche
Aufzeichnungen haben, die du mir zeigen kannst.«
»Unmöglich. Für das, was er mir erzählt hat, gibt es
keine Beweise.«
»Was, wenn er der Mörder ist, Paolo?«
»Wenn ich Beweise hätte, würde ich mit dir darüber
sprechen. Doch ich kann nur sagen, dass er wirres Zeug geredet hat und dass ich
ein unbehagliches Gefühl bekam, als man sich mit mir wegen der ermordeten
Prostituierten in Verbindung setzte, die sich später als die vermisste
Kanadierin entpuppte.«
»Man hat sich mit dir in Verbindung gesetzt? Warum?
In deiner Funktion als Experte? Das ist mir aber neu.«
»Die Staatspolizei hat in der Sache ermittelt. Nicht
die Carabinieri. Ich werde häufig um Rat gefragt. Kurz zusammengefasst: Der
Patient hat mich nie wieder aufgesucht, weshalb ich keine Auskunft darüber
geben kann, wo er sich aufhält«, erwidert Dr. Maroni.
»Kann oder will?«
»Kann.«
»Begreifst du denn nicht, dass dieser Mensch
möglicherweise Drew Martin umgebracht hat? Er wurde von Dr. Seif an dich überwiesen.
Und die versteckt sich plötzlich in deinem Krankenhaus, weil ein Verrückter ihr
E-Mails schickt.«
»Du verrennst dich da in etwas. Wir haben nur von
einem VIP gesprochen. Dr. Selfs Name ist nie gefallen. Allerdings ist der
Grund, sich zu verstecken, wichtiger als das Versteck an sich.«
»Wenn ich nur mit einer Schaufel dein Gehirn
umgraben könnte, Paolo. Ich bin neugierig, was ich da finden würde.«
»Risotto und Wein.«
»Falls dir Einzelheiten bekannt sind, die uns bei
unseren Ermittlungen weiterhelfen würden, finde ich es nicht richtig von dir,
dass du schweigst«, fährt der Capitano fort und verstummt dann, weil der
Kellner sich dem Tisch
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