Totenbuch
beschäftigt. In seinen Augen sind sie
Menschen, die nie Zeit für das haben, was im Leben wirklich zählt.
»Siehst du? Je länger sie mir aus dem Weg geht,
desto größer wird mein Verdacht, dass es dafür einen bestimmten Grund gibt«,
fügt der Capitano hinzu. »Vielleicht liegt es an diesem Geisteskranken, den
sie an dich überwiesen hat. Bitte verrate mir, wo ich sie finde. Ich bin
sicher, dass du es weißt.«
»Habe ich schon erwähnt, dass wir in den Vereinigten
Staaten Gesetze und Vorschriften haben?«, entgegnet Dr. Maroni. »Und dass es
bei uns ein Volkssport ist, seine Mitmenschen vor den Kadi zu zerren?«
»Ihre Mitarbeiter haben mir nicht verraten, ob sie
Patientin in deinem Krankenhaus ist.«
»Von mir erfährst du es auch nicht.«
»Natürlich nicht.« Der Capitano schmunzelt. Jetzt
ist er im Bilde. Zweifel ausgeschlossen.
»Ich bin so froh, dass ich zurzeit nicht dort bin«,
fügt Dr. Maroni hinzu. »Momentan ist im Pavillon eine sehr schwierige
VIP-Patientin untergebracht. Hoffentlich kommt Benton Wesley mit ihr zurecht.«
»Ich muss mit ihr sprechen. Was kann ich tun, damit
sie keinen Verdacht schöpft, dass die Information von dir stammt?“
»Von mir weißt du gar nichts.«
»Irgendwoher muss ich es aber wissen. Sie wird
Antworten fordern.«
»Jedenfalls nicht von mir. Du hast es gerade selbst
ausgesprochen. Und ich habe es dir nicht bestätigt.«
»Können wir das Thema nicht rein hypothetisch
erörtern?«
Dr. Maroni trinkt einen Schluck Wein. »Der
Barbaresco vom letzten Mal hat mir besser geschmeckt.«
»Kein Wunder. Er kostet dreihundert Euro die
Flasche.«
»Ein voller Körper, aber dennoch erfrischend.«
»Der Wein oder die Frau, mit der du die letzte Nacht
verbracht hast?«
Für einen Mann seines Alters, der sich beim Essen
und Trinken nicht eben selbst kasteit, sieht Dr. Maroni sehr gut aus und ist
nie ohne weibliche Begleitung. Die Frauen werfen sich ihm zu Füßen, als wäre er
der Gott Priapus persönlich, und der dottore ist kein Kostverächter. Für gewöhnlich lässt er seine
Ehefrau in Massachusetts zurück, wenn er nach Rom reist. Es scheint sie nicht
weiter zu stören. Sie ist gut versorgt und bleibt von seinen sexuellen Ansprüchen
verschont, weil er sie nicht mehr begehrt und seine Liebe zu ihr erkaltet ist.
Niemals könnte der Capitano eine solche Ehe führen. Er ist und bleibt ein
Romantiker. Nun ertappt er sich wieder dabei, wie er an Scarpetta denkt. Sie
braucht keinen Ernährer und würde sich niemals aushalten lassen. Ständig
geistert sie durch seine Gedanken wie der flackernde Schein der Kerzen auf den
Tischen und die Lichter der Stadt jenseits des Fensters. Sie rührt etwas in
ihm an.
»Ich kann sie im Krankenhaus kontaktieren. Doch dann
wird sie wissen wollen, wie ich ihren Aufenthaltsort ermittelt habe«, sagt der
Capitano.
»Du meinst den VIP.« Dr. Maroni taucht einen
Perlmuttlöffel in den Kaviar und schöpft genug für zwei Blinis heraus. Nachdem
er den Kaviar flächendeckend verteilt hat, steckt er ein Blini in den Mund. »Du
darfst dich mit niemandem im Krankenhaus in Verbindung setzen.«
»Was ist, wenn ich Benton Wesley als Quelle nenne?
Er war vor kurzem hier und ist an den Ermittlungen beteiligt. Jetzt ist sie
seine Patientin. Ich bin verärgert über ihn. Erst letztens haben wir über Dr.
Seif gesprochen, und er hat uns verschwiegen, dass sie seine Patientin ist.«
»Du meinst den VIP. Benton ist kein Psychiater, und
somit ist der VIP auch nicht offiziell sein Patient, sondern meiner.«
Der Capitano hält inne, als der Kellner die primi piatti serviert:
Risotto mit Pilzen und Parmesan und Minestrone mit Basilikum und quadrucci pasta.
»Benton würde niemals gegen das Arztgeheimnis
verstoßen. Da könnte man genauso gut einen Stein fragen«, fährt Dr. Maroni
fort, nachdem der Kellner gegangen ist. »Meiner Vermutung nach wird der VIP
bald abreisen. Aber wohin? So lautet die Frage, die dich interessieren sollte.
Wo sie davor gewesen ist, hat nur in Zusammenhang mit dem Motiv eine
Bedeutung.«
»Dr. Selfs Show wird in New York aufgezeichnet.«
»VIPs genießen absolute Bewegungsfreiheit. Wenn du
herausfindest, wo sie ist, und auch den Grund dafür ermittelst, könntest du
ihr nächstes Reiseziel in Erfahrung bringen. Vielleicht wäre Lucy Farinelli
eine gute Quelle.«
»Lucy Farinelli?« Der Capitano versteht kein Wort.
»Dr. Scarpettas Nichte. Ich tue ihr einen Gefallen,
weshalb sie ziemlich häufig ins Krankenhaus kommt. Also
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