Totenbuch
sie den Flur entlang bis zu einer Tür, hinter der sich eine
abgetretene Eichentreppe verbirgt. Diese führt geradewegs in die Küche, wo
Marino gerade eine Dose Pepsi light öffnet.
Er mustert sie von Kopf bis Fuß. »Was sind wir heute
wieder schick«, sagt er. »Hast du vergessen, dass wir Sonntag haben und du
nicht zum Gericht musst? Also kann ich meinen Ausflug nach Myrtle Beach wohl
vergessen.« Seinem bartstoppeligen und geröteten Gesicht ist die durchzechte
Nacht deutlich anzumerken.
»Betrachte es als Geschenk. Wieder ein Tag, an dem
du dich nicht in Lebensgefahr bringst.« Scarpetta verabscheut Motorräder.
»Außerdem ist das Wetter miserabel und soll sogar noch schlechter werden.«
»Irgendwann kriege ich dich schon noch auf den
Sozius meiner Indian Chief Roadmaster. Danach wirst du auch süchtig sein und
mich anflehen, weiter mitfahren zu dürfen.«
Die Vorstellung, rittlings auf seiner dicken
Maschine zu sitzen, die Arme um ihn zu schlingen und sich an ihn zu pressen,
empfindet Scarpetta als ausgesprochen abstoßend. Er weiß das. Außerdem ist sie
seine Chefin, und zwar in der einen oder anderen Konstellation schon seit fast
zwanzig Jahren, eine Situation, die ihm allmählich unpassend erscheint. Ja,
sie haben sich beide verändert. Ja, sie haben gute und schwere Zeiten
durchgemacht. Doch in den letzten Wochen - insbesondere seit kurzem - verliert
er offenbar den Respekt vor ihr und ihrem Beruf. Scarpetta denkt an Dr. Selfs
E-Mails und fragt sich, ob er annimmt, dass sie sie gelesen hat. Was für ein
Spielchen Dr. Seif wohl mit ihm treiben mag? Jedenfalls eines, das er nicht
versteht und deshalb zwangsläufig verlieren wird.
»Ich habe dich kommen gehört. Offenbar hast du dein
Motorrad schon wieder an der Rampe geparkt«, sagt sie. »Wenn es von einem
Leichenwagen oder einem Laster beschädigt wird, ist das ganz allein deine
Schuld. Erwarte also kein Mitleid von mir«, fügt sie hinzu.
»In diesem Fall kriegst du eine neue Leiche auf den
Tisch, und zwar die von dem dämlichen Schwachkopf von einem Bestatter, der
nicht weiß, wo er hinfährt.«
Marinos Motorrad, dessen Auspuffrohre ein Getöse von
Überschall-Qualität verursachen, hat sich inzwischen zu einem weiteren Stein
des Anstoßes entwickelt. Er fährt damit zu Tatorten, zum Gericht, in
Krankenhäuser und Anwaltskanzleien und auch zu Zeugen nach Hause. Außerdem
weigert er sich, es auf dem Büroparkplatz abzustellen, und zwängt es
stattdessen in die Ladezone, die für Leichenwagen, nicht für Privatfahrzeuge,
gedacht ist.
»Ist Mr. Grant schon da?«, erkundigt sich Scarpetta.
»Er ist in einer Schrottlaube von einem Pick-up
vorgefahren, und zwar mit einem vergammelten Fischerboot, Krabbennetzen, Eimern
und anderem Müll auf der Ladefläche. Der Typ ist gebaut wie ein Kleiderschrank
und außerdem so schwarz wie die Nacht. Noch nie habe ich Schwarze gesehen, die
so schwarz sind wie die Schwarzen hier. Kein Tröpfchen Sahne im Kaffee. Nicht
wie in unserer alten Heimat Virginia, wo Thomas Jefferson die Hausmädchen
gevögelt hat.«
Scarpetta hat keine Lust auf seine schlechten
Scherze. »Ist er in meinem Büro? Ich möchte ihn nämlich nicht warten lassen.«
»Ich kapiere nicht, warum du dich für ihn in Schale
wirfst, als hättest du eine Verabredung mit einem Anwalt oder einem Richter
oder wolltest in die Kirche«, sagt Marino, und sie fragt sich, ob er in
Wirklichkeit hofft, dass sie sich für ihn schick gemacht hat - in der Annahme,
dass sie Dr. Selfs E-Mails kennt und eifersüchtig ist.
»Der Termin mit ihm ist genauso wichtig wie alle
anderen«, entgegnet sie. »Immer respektvoll sein, schon vergessen?«
Marino riecht nach Zigaretten und Alkohol. Und wenn
er »nicht ganz er selbst ist«, wie Scarpetta es - inzwischen viel zu häufig -
beschönigend ausdrückt, sorgt seine tief in ihm verwurzelte Unsicherheit
dafür, dass sich sein prahlerisches Gebaren verschlimmert. Seine hünenhafte
Gestalt lässt ihn noch bedrohlicher wirken. Marino ist Mitte fünfzig, rasiert
sich den schütteren Schädel und trägt meistens eine schwarze Motorradkluft mit
schweren Stiefeln und in letzter Zeit auch noch eine protzige Kette, an der ein
Silberdollar baumelt. Da er Gewichtheben trainiert wie ein Besessener, hat er
eine breite Brust, und er prahlt gern damit, dass man seine Lunge
gegebenenfalls in zwei Etappen röntgen müsste, weil sie nicht auf einmal auf
einen Röntgenfilm passt. Nach seinen Jugendfotos zu urteilen, war er früher
einmal auf
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