Totenbuch
eine
andere Stelle suchen. Dann starb diese Frau auch. Damit wollte ich Ihnen nur
erklären, warum ich Ihr Stadtviertel kenne wie meine Westentasche.«
Sie betrachtet die rosigen Narben auf seinen
Handrücken.
»Ich kenne auch Ihr Haus ...«, fährt er fort.
»Wie ich schon sagte ...«, fällt Marino ihm wieder
ins Wort.
»Lass ihn doch ausreden«, sagt Scarpetta.
»Ich kenne Ihren Garten sehr gut, weil ich den
Gartenteich ausgehoben, den Beton gegossen und auch die Engelsstatue gepflegt
habe, die am Rand steht. Ich habe dafür gesorgt, dass sie immer hübsch sauber
war. Außerdem habe ich den weißen Lattenzaun am anderen Ende gebaut. Aber die
Backsteinsäulen und die schmiedeeisernen Gitter gegenüber sind nicht von mir.
Das war vor meiner Zeit. Als Sie das Haus gekauft haben, war alles vermutlich
so von Myrte und Bambus überwuchert, dass man es gar nicht mehr sehen konnte.
Ich habe Rosen, Europäerreben, kalifornischen Mohn und chinesischen Jasmin
gepflanzt und im Haus nach dem Rechten gesehen.«
Scarpetta fällt aus allen Wolken.
»Aber egal«, fährt Bull fort. »Ich habe für die
Hälfte der Anwohner in Ihrer Gasse und in der King Street, Meeting Street und
Church Street gearbeitet, und zwar seit meiner Kindheit. Sicher haben Sie noch
nichts davon gehört, weil ich mich lieber im Hintergrund halte. Das ist das
Beste, wenn man sich bei den Leuten nicht unbeliebt machen will.«
»Wohl ganz im Gegensatz zu mir«, erwidert sie.
Marino wirft ihr einen warnenden Blick zu: Sie ist
zu offen.
»Ja, Ma'am. So sind die Leute hier nun mal«,
antwortet Bull. »Außerdem haben Sie lauter Spinnweben-Abziehbilder an Ihren
Fensterscheiben angebracht. Das macht auch keinen guten Eindruck, insbesondere
wenn man an Ihren Beruf denkt. Darf ich ehrlich sein? Eine Ihrer Nachbarinnen
nennt Sie Mrs. Halloween.«
»Lassen Sie mich raten. Das ist bestimmt Mrs.
Grimball.«
»Ich würde das nicht weiter ernst nehmen«, spricht
Bull weiter. »Wenn sie mich sieht, ruft sie immer ole, weil mein
Spitzname Bull ist.«
»Die Aufkleber sollen verhindern, dass Vögel gegen
die Scheiben fliegen.«
»Aha. Allerdings habe ich nie ganz kapiert, woher
wir wissen wollen, was Vögel tatsächlich sehen. Verstehen Sie wirklich, dass
die Dinger ein Spinnennetz darstellen sollen, und drehen dann ab? Und ich habe
auch noch nie erlebt, dass ein Vogel in einem Spinnennetz hängen geblieben
wäre wie ein Käfer. Dasselbe ist es mit der Behauptung, dass Hunde farbenblind
sind und kein Zeitgefühl haben. Wie kommen wir bloß darauf?«
»Was hatten Sie in der Nähe ihres Hauses verloren?«,
fragt Marino.
»Ich habe Arbeit gesucht. Als Junge war ich auch bei
Mrs. Whaley beschäftigt«, sagt Bull zu Scarpetta. »Sie haben doch sicher schon
gehört, dass Mrs. Whaleys Garten drüben an der Church Street der berühmteste
von ganz Charleston ist.« Als Bull stolz lächelnd in die entsprechende Richtung
zeigt, leuchten seine Narben rosig auf.
Er hat auch Narben an den Handflächen. Abwehrverletzungen, denkt
Scarpetta.
»Es war ein echtes Privileg, für Mrs. Whaley zu
arbeiten, und sie war wirklich nett zu mir. Wussten Sie, dass sie ein Buch
geschrieben hat? Es ist im Schaufenster des Buchladens im Charleston Hotel ausgestellt.
Für mich hat sie ein Exemplar signiert. Das habe ich heute noch.«
»Was soll dieser Mist?«, mischt sich Marino wieder
ein. »Sind Sie gekommen, um uns etwas über den toten kleinen Jungen zu
erzählen? Oder wollen Sie sich um einen Job bewerben und in Erinnerungen
schwelgen?«
»Manchmal passen die Dinge auf geheimnisvolle Weise
zusammen«, entgegnet Bull. »Wenigstens sagt das meine Mom immer.
Vielleicht entsteht aus etwas Schlechtem etwas
Gutes. Möglicherweise hat das Ereignis - so schrecklich es auch gewesen sein
mag - auch positive Folgen. In meinem Kopf spult es immer wieder ab wie ein
Film. Der kleine Junge, tot im Schlamm. Die Krabben und Fliegen, die auf ihm
herumkriechen.« Mit einem zernarbten Zeigefinger berührt Bull seine entstellte
Stirn. »Ich sehe ihn da oben, wenn ich die Augen schließe. Die Polizei in
Beaufort County sagt, Sie müssten sich hier erst noch einrichten.« Er blickt
sich in Scarpettas Büro um und betrachtet eingehend die Bücher und die
eingerahmten Diplome. »Für mich sieht es schon recht fertig aus, auch wenn ich
es sicher besser hingekriegt hätte.« Seine Augen wandern zu den vor kurzem
eingebauten Schränken, in denen Scarpetta vertrauliche Unterlagen und solche zu
Fällen, die erst
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