Totenbuch
nähert.
Dr. Maroni verlangt noch einmal die Speisekarte,
obwohl er sie bereits von oben bis unten auswendig kennt, weil er häufig hier
diniert. Der Capitano, der ebenfalls keine Speisekarte braucht, empfiehlt
gegrillte Garnelen mit Salat, gefolgt von einer Käseauswahl. Die Möwe kehrt
allein zurück, starrt durchs Fenster und sträubt das leuchtend weiße Gefieder.
Unter ihnen schimmern die Lichter der Stadt. Die goldene Kuppel des Petersdoms
erinnert an eine Krone.
»Otto, wenn ich bei einer derart dünnen Beweislage
das Arztgeheimnis verletze und sich das Ganze zu guter Letzt als Irrtum
herausstellt, kann ich beruflich einpacken«, erklärt Dr. Maroni schließlich.
»Es besteht von der Gesetzeslage her kein Grund, warum ich der Polizei weitere
Einzelheiten über ihn preisgeben sollte. Also wäre es sehr unklug von mir.«
»Du ergehst dich in Andeutungen, wer vielleicht der
Mörder sein könnte, und schlägst mir dann die Tür vor der Nase zu?«, seufzt
Capitano Poma verzweifelt und beugt sich über den Tisch.
»Nicht ich habe diese Tür geöffnet«, entgegnet Dr. Maroni. »Ich habe
dich nur auf ihre Existenz hingewiesen.«
Scarpetta ist so in ihre Arbeit versunken, dass sie
zusammenzuckt, als um Viertel vor drei der Wecker an ihrer Armbanduhr piept.
Sie näht den Y-förmigen Einschnitt in der Brust der
verwesenden Leiche der alten Dame zu, deren Autopsie sich als völlig überflüssig
erwiesen hat: Todesursache wie erwartet arteriosklerotische Verengungen der
Herzkranzgefäße. Scarpetta zieht die Handschuhe aus und wirft sie in den
grellroten Eimer für infektiösen Klinikmüll. Dann ruft sie Rose an.
»Ich bin in einer Minute oben«, teilt Scarpetta ihr
mit. »Könnten Sie bitte bei Meddicks Bescheid geben, dass sie die Leiche
abholen können.«
»Gerade wollte ich nach Ihnen sehen«, erwidert Rose.
»Ich hatte schon Angst, Sie hätten sich versehentlich in die Kühlkammer eingeschlossen.«
Ein alter Scherz. »Benton hat versucht, Sie zu erreichen. Sie sollen Ihre
E-Mails durchsehen, und zwar, wenn Sie, ich zitiere, allein und in guter Stimmung sind.«
»Sie klingen ja noch schlimmer als gestern. Ihre
Nase ist ganz verstopft.«
»Ich habe eine leichte Erkältung.«
»Vor einer Weile habe ich Marinos Motorrad gehört.
Außerdem hat jemand hier unten in der Kühlkammer geraucht. Sogar mein Kittel
stinkt danach.«
»Seltsam.«
»Wo steckt er? Wäre nett gewesen, wenn er sich die
Zeit genommen hätte, mir zu helfen.«
»In der Küche«, antwortet Rose.
Nachdem Scarpetta frische Handschuhe angezogen hat,
wuchtet sie die Leiche der alten Frau vom Autopsietisch in den stabilen, mit
einem Laken ausgekleideten Vinylsack, der auf einer Bahre liegt, und schiebt
diese in die Kühlkammer. Dann spritzt sie ihren Arbeitsplatz mit dem Schlauch
ab und stellt die Röhrchen mit Körperflüssigkeit, Urin, Galle und Blut sowie
einen Karton, der verschiedene Organe enthält, für eine spätere toxikologische
und histologische Untersuchung in den Kühlschrank. Die mit Blut getränkten
Karten - DNA-Proben, die zu jeder Fallakte gehören - kommen zum Trocknen unter
eine Haube. Schließlich wischt sie den Boden, reinigt die chirurgischen
Instrumente und die Waschbecken und ordnet die Papiere, die sie für ihr Diktat
braucht. Zu guter Letzt ist die eigene Körperhygiene an der Reihe.
Im hinteren Teil des Autopsiesaals befinden sich mit
HEPA- und Kohlefilter ausgestattete Trockenschränke für blutige und schmutzige
Kleidungsstücke, bevor diese als Beweisstücke verpackt und an die Labors
geschickt werden können. Daneben liegen ein Lagerraum und ein Wäscheraum und
ganz zum Schluss die von einer Wand aus Glasbausteinen abgeteilten und nach
Geschlechtern getrennten Umkleiden. Da ihre Praxis in Charleston noch in den
Kinderschuhen steckt, ist Marino ihr einziger Gehilfe im Autopsiesaal. Eine
Seite der Umkleide gehört ihm, die andere ihr, und sie hat immer ein
merkwürdiges Gefühl, wenn sie beide gleichzeitig duschen. Dann kann sie ihn
hören und sieht durch das dicke grüne, durchscheinende Glas seinen Schatten,
wenn er sich bewegt. Sie betritt ihre Seite der Umkleide und schließt ab.
Schuhhüllen, Schürze, Kappe und Gesichtsmaske sind zum einmaligen Gebrauch
bestimmt und landen in einem Eimer für infektiösen Müll. Ihren Kittel wirft sie
in den Wäschekorb. Danach duscht sie, schrubbt sich mit antibakterieller Seife
ab, föhnt sich die Haare und schlüpft wieder in Kostüm und Pumps. Als sie
fertig ist, geht
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