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Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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haben?«
    »Kann ich nicht behaupten. Aber warum sollte ich
auch? Schließlich lag der kleine Junge schon seit Tagen dort, wo ich ihn
gefunden habe.«
    »Wer sagt das?«, hakt Scarpetta nach.
    »Der Mann vom Bestattungsunternehmen, den ich auf
dem Parkplatz getroffen habe.«
    »Der, der die Leiche hierher gebracht hat?«
    »Nein, Ma'am, der andere. Er war mit einem großen
Leichenwagen da. Keine Ahnung, was er wollte. Außer reden.«
    »Lucious Meddick?«, fragt Scarpetta.
    »Von Meddicks Bestattungsinstitut. Ja, Ma'am. Seiner
Schätzung nach war der kleine Junge schon seit zwei oder drei Tagen tot, als
ich ihn gefunden habe.«
    Dieser verdammte Lucious Meddick. So von sich selbst
eingenommen und trotzdem immer schief gewickelt. Am 29. und 30. April war
es zwischen fünfundzwanzig und dreißig Grad warm. Hätte die Leiche auch nur
einen einzigen Tag im Sumpf gelegen, dann hätte der Verwesungsprozess sicher
schon eingesetzt. Außerdem wären Raubtiere und Fische bereits darüber
hergefallen. Fliegen sind zwar nicht nachtaktiv. Doch bei Tagesanbruch hätten
sie sicher damit begonnen, Eier zu legen, sodass die Leiche von Maden gewimmelt
hätte. Bei der Einlieferung der Leiche in die Autopsie war die Leichenstarre
bereits weit fortgeschritten, allerdings noch nicht komplett, auch wenn sie
aufgrund der durch Unterernährung verkümmerten Muskulatur vermutlich nur in abgeschwächter
Form eintrat. Livor mortis war festzustellen, jedoch noch nicht fixiert. Außerdem
fehlten Verfärbungen durch Verwesung. Krabben, Shrimps und ähnliches Getier
hatten sich gerade erst über Ohren, Nase und Lippen hergemacht. Nach Scarpettas
Schätzung lag der Tod des Jungen höchstens vierundzwanzig Stunden, vielleicht
auch weniger, zurück.
    »Sprechen Sie weiter«, fordert Marino Bull auf.
»Schildern Sie uns genau, wie Sie die Leiche gefunden haben.«
    »Ich habe Anker geworfen und bin ausgestiegen. Ich
hatte Gummistiefel und Handschuhe an und einen Korb und einen Hammer bei mir
...«
    »Einen Hammer?«
    »Um die Klumpen auseinanderzuschlagen.«
    »Klumpen?«, fragt Marino mit einem abfälligen
Grinsen.
    »Austern kleben in Klumpen zusammen, sodass man sie
auseinanderbrechen und die leeren Schalen beseitigen muss. Die meisten
klumpen zusammen, einzelne Exemplare findet man nur selten.« Kurz hält er
inne. »Offenbar kennen Sie sich nicht gut mit Austern aus. Jedenfalls habe ich
gegen Mittag mit der Suche angefangen. Das Wasser stand ziemlich niedrig, und
da habe ich im Gras etwas bemerkt, das wie schlammige Haare aussah. Und als ich
näher rankam, lag er da.«
    »Haben Sie ihn angefasst oder bewegt?«, erkundigt
sich Scarpetta.
    »Nein, Ma'am.« Er schüttelt den Kopf. »Als mir klar
wurde, was ich da vor mir hatte, bin ich sofort zurück zum Boot und habe die
Polizei angerufen.«
    »Die Ebbe fing gegen ein Uhr morgens an«, sagt sie.
    »Richtig. Und um sieben hatten wir wieder Flut.
Höher stieg das Wasser nicht. Als ich rausfuhr, stand es wieder ziemlich
niedrig.«
    »Wenn Sie eine Leiche beseitigen wollten«, meint
Marino, »würden Sie das dann bei Ebbe oder bei Flut tun?«
    »Der Täter hat den Toten wahrscheinlich bei
Niedrigwasser im Schlamm und Gras am Ufer des kleinen Bachs abgelegt. Ansonsten
wäre die Leiche bei Flut von der Strömung davongetragen worden. Aber dort, wo
ich den Jungen gefunden habe, wäre er vermutlich liegen geblieben bis zum
nächsten Frühjahrshochwasser bei Vollmond, wenn das Wasser auf bis zu
dreieinhalb Meter steigt. In diesem Fall hätte er irgendwo hingeschwemmt werden
können.«
    Scarpetta hat Nachforschungen angestellt. In der
Nacht vor dem Auffinden der Leiche war der Mond nur zu einem knappen Drittel
voll. Der Himmel war leicht bewölkt.
    »Ein guter Platz, um eine Leiche loszuwerden. In
einer Woche wären nur noch ein paar Knochen übrig gewesen«, stellt Marino fest.
»Ein Wunder, dass sie dennoch entdeckt wurde, oder?«
    »Stimmt, da haben Sie recht. Die Wahrscheinlichkeit,
ihn zu finden, war sehr gering«, pflichtet Bull ihm bei.
    »Als ich gerade von Ebbe und Flut gesprochen habe,
wollte ich eigentlich nicht wissen, was irgendein X-Beliebiger in diesem Fall
getan hätte, sondern Sie ganz persönlich.« Marino lässt nicht locker.
    »In einem kleinen Boot mit wenig Tiefgang kann man
bei Ebbe auch auf Kanälen fahren, die weniger als dreißig Zentimeter tief sind.
So hätte ich es jedenfalls gemacht. Aber ich war es nicht.« Wieder blickt er
Marino in die Augen. »Ich habe mit dem kleinen Jungen

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