Totenbuch
geantwortet.«
Es klopft an der Tür. Rose kommt herein und stellt
eine Kaffeetasse neben Bull auf den Tisch. Ihre Hände zittern. »Mit Milch und
Zucker«, sagt sie. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Die erste
Kanne ist übergelaufen. Alles war voller Kaffeesatz.«
»Danke, Ma'am.«
»Braucht sonst noch jemand etwas?« Rose blickt in
die Runde. Sie holt tief Luft und wirkt noch erschöpfter und blasser als
vorhin.
»Fahren Sie doch nach Hause und ruhen Sie sich aus«,
schlägt Scarpetta vor.
»Ich bin in meinem Büro.«
Die Tür fällt zu. »Ich möchte Ihnen gern erklären,
wie es derzeit mit mir steht, wenn Sie nichts dagegen haben«, fährt Bull fort.
»Nur zu«, erwidert Scarpetta.
»Bis vor drei Wochen hatte ich einen richtigen Job.«
Er betrachtet seine Daumen und lässt sie langsam auf dem Schoß kreisen. »Ich
will Ihnen reinen Wein einschenken. Wie Sie sicher merken, wenn Sie mich
anschauen, bin ich in Schwierigkeiten geraten. Aber ich bin nicht auf eine
Austernbank gefallen.« Dabei blickt er Marino an.
»Was für Schwierigkeiten?«, fragt Scarpetta.
»Ein Joint und eine Prügelei. Obwohl ich keine Zeit
mehr hatte, das Gras wirklich zu rauchen - doch ich wollte es tun.«
»Ist ja reizend«, höhnt Marino. »Denn rein zufällig
gehört es zu den Einstellungsvoraussetzungen für unsere zukünftigen Mitarbeiter,
dass sie kiffen, zuhauen können und die Leiche von mindestens einem Ermordeten
finden. Für Gärtner und Hausmeister in unseren Privathäusern gelten natürlich
dieselben Anforderungen.«
»Ich weiß, wie sich das anhört«, erwidert Bull.
»Aber in Wirklichkeit war es ganz anders. Ich habe am Hafen gearbeitet.«
»Als was?«, erkundigt sich Marino.
»Die offizielle Arbeitsplatzbezeichnung lautete
Gabelstaplerfahrer. Allerdings habe ich hauptsächlich Geräte gewartet, Kisten
geschleppt und getan, was mein Vorarbeiter sonst so von mir verlangt hat.
Außerdem musste ich das Funkgerät bedienen und alles Mögliche reparieren.
Sozusagen als Mädchen für alles. Eines Abends, nachdem ich ausgestempelt hatte,
habe ich beschlossen, mir die alten Container am Frachthafen mal aus der Nähe
anzuschauen. Sie wissen schon, die verbeulten Dinger, die ein bisschen abseits
stehen und nicht mehr benutzt werden. Man kann sie durch den Maschendrahtzaun
von der Concord Street aus sehen. Es war ein langer Tag gewesen, und um ehrlich
zu sein, hatten meine Frau und ich am Morgen Streit gehabt. Also war ich
schlechter Laune und hatte Lust auf Gras. So etwas mache ich nur selten; ich
kann mich ans letzte Mal gar nicht mehr erinnern. Ich hatte den Joint noch gar
nicht angezündet, als plötzlich von den Eisenbahnschienen her ein Kerl
aufgekreuzt ist. Er hat mich mit dem Messer ziemlich übel zugerichtet.«
Bull schiebt die Ärmel hoch, streckt die muskulösen
Arme und Hände aus, dreht sie und zeigt weitere lange Schnittwunden vor, die
sich hellrosa von seiner schwarzen Haut abheben.
»Hat man den Täter erwischt?«, fragt Scarpetta.
»Ich glaube, die Cops haben sich keine große Mühe
gegeben. Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte den Streit angefangen und wäre
vermutlich mit dem Mann aneinandergeraten, von dem ich das Gras gekauft hatte.
Ich habe nicht verraten, wer es war, weil ich weiß, dass er mit der
Messerstecherei nichts zu tun hat. Er arbeitet nicht einmal am Hafen. Als sie
in der Notaufnahme mit mir fertig waren, habe ich einige Tage im Gefängnis
verbracht und wurde dann dem Richter vorgeführt. Das Verfahren wurde eingestellt,
weil es keinen Verdächtigen gab und auch kein Gras gefunden wurde.«
»Ach, nein! Warum hat man Sie denn wegen des
Besitzes von Marihuana angeklagt, wenn gar keines vorhanden war?«, fragt
Marino.
»Weil ich der Polizei erzählt habe, dass ich gerade
einen Joint rauchen wollte, als es geschah. Ich hatte ihn schon gedreht und
wollte ihn anzünden, und da hat der Mann mich angegriffen. Vielleicht hat die
Polizei das Ding ja übersehen. Offen gestanden denke ich, dass sie die Sache
nicht weiter interessiert hat. Oder der Mann mit dem Messer hat den Joint
mitgenommen. Keine Ahnung. Jedenfalls lasse ich in Zukunft die Finger vom Gras.
Alkohol rühre ich auch nicht mehr an. Das habe ich meiner Frau versprochen.«
»Und die Hafenverwaltung hat Sie rausgeworfen«,
vermutet Scarpetta.
»Ja, Ma'am.«
»Und jetzt, denken Sie, könnten wir hier Arbeit für
Sie haben.«
»Ich tue, was Sie wollen, und bin mir für nichts zu
schade. Vor dem Autopsiesaal habe ich auch
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