Totenbuch
keine Angst. Tote stören mich
nicht.«
»Am besten geben Sie mir Ihre Mobilfunknummer oder
sagen mir, wie ich Sie sonst erreichen kann«, schlägt Scarpetta vor.
Er zieht einen zusammengefalteten Zettel aus der
Gesäßtasche, steht auf und legt ihn mit einer höflichen Geste auf ihren Schreibtisch.
»Da steht alles drauf, Ma'am. Sie können mich jederzeit anrufen.«
»Ermittler Marino begleitet Sie hinaus. Vielen
herzlichen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Grant.« Scarpetta erhebt sich hinter ihrem
Schreibtisch und schüttelt ihm - vorsichtig, um ihm nicht wehzutun - die Hand.
Gut hundert Kilometer südwestlich von der
Ferieninsel Hilton Head ist der Himmel bewölkt. Vom Meer weht ein böiger warmer
Wind heran.
Zielstrebig marschiert Will Rambo über den dunklen,
menschenleeren Strand. Er hat einen grünen Anglerkoffer bei sich und leuchtet
mit einer starken Surefire-Taschenlampe in die jeweils gewünschte Richtung,
obwohl er den Weg eigentlich kennt. Der Strahl der Taschenlampe ist grell
genug, um einen Menschen für einige Sekunden zu blenden, ein Zeitraum, der im
Notfall völlig ausreichend ist. Sand weht ihm ins Gesicht, scharrt an seiner
getönten Brille und umwirbelt ihn wie der Tüllschleier eines Tanzmädchens.
Und der Sandsturm kam tosend und einem Tsunami
gleich über Al Asad. Er verschluckte den Humvee mit ihm darin und auch den Himmel, die Sonne, ja die ganze Welt.
Blut quoll durch Rogers Finger, die aussahen, wie mit hellroter Farbe
angemalt. Der Sand peitschte und klebte an seinen blutenden Fingern, als er
versuchte, seine Gedärme zurück in die Bauchhöhle zu schieben. Panik und
Todesangst malten sich in seinem Gesicht, wie Will es noch nie hei einem
Menschen erlebt hatte. Und er konnte nichts weiter tun, als seinem Freund zu
versichern, dass alles gut werden würde, und ihm zu helfen, seine Gedärme
festzuhalten.
Will hört Rogers angsterfüllte Schmerzensschreie,
als die Möwen kreischend über den Strand segeln.
»Willi Will! Will!«
Die durchdringenden Schreie und
das Dröhnen des Sandsturms. »Will! Will! Bitte hilf mir, Will!«
Einige Zeit später, nach einem
Zwischenaufenthalt in Deutschland, ist Will in die USA und auf den
Luftwaffenstützpunkt in Charleston zurückgekehrt. Anschließend ging es weiter
nach Italien, allerdings nicht in die Gegend, wo er aufgewachsen ist. Immer
wieder Aussetzer. Dann nach Rom, um seinen Vater zur Rede zu stellen. Die Zeit
war reif dafür. Das mit Palmenmustern und Trompel'ceil-Gemälden ausgeschmückte
Esszimmer des Hauses an der Piazza Navona, in dem er als Junge seine
Sommerferien verbracht hat, war wie eine Szene aus einem Traum. Ein Glas Rotwein
mit seinem Vater. Wein, so rot wie Blut. Dazu das lästige Stimmengewirr der
Touristen, draußen vor dem offenen Fenster. Dumme Touristen, nicht mehr Grips
im Kopf als Tauben, warfen Münzen in Berninis Fontana dei Quattri Fiumi und
fotografierten einander vor dem unablässig plätschernden Wasser.
»Sie wünschen sich Dinge, die
niemals in Erfüllung gehen. Und wenn doch, wäre es ein Pech für dich«, meinte
er zu seinem Vater. Der aber verstand kein Wort, sondern starrte ihn nur an wie
einen Außerirdischen.
Am Tisch unter dem Kronleuchter:
Wills Gesicht, zurückgeworfen von dem venezianischen Spiegel an der
gegenüberliegenden Wand. Wirklich Wills Gesicht, nicht das eines Außerirdischen,
und sein Mund, der sich im Spiegel bewegte. Er hat seinem Vater erzählt, Roger habe als Held aus dem Irak zurückkehren
wollen. Sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, sagte Wills Mund: Roger kam
tatsächlich als Held nach Hause, und zwar in einem billigen Sarg im Frachtraum
eines Galaxy-Transportflugzeugs.
»Wir hatten weder Schutzbrillen noch kugelsichere
Westen oder andere Schutzkleidung«, erklärte Will seinem Vater in Rom, in der
Hoffnung auf Verständnis, allerdings wohl wissend, dass es vergebliche
Liebesmüh war.
»Kein Mensch hat dich gezwungen, dich für einen
Auslandseinsatz zu melden. Also spar dir das Genörgel.«
»Ich musste dir schreiben, um dich um Batterien für
unsere Taschenlampen zu bitten. Und um Werkzeug, denn unsere Schraubenzieher
sind alle abgebrochen. Sie haben uns nur mit billigem Mist ausgerüstet«, sagte
Wills Mund im Spiegel. »Nur das Billigste vom Billigen. Von diesen
Scheiß-Politikern ist doch einer so verlogen wie der andere.«
»Warum hast du mitgemacht?«
»Weil man es mir befohlen hat, du alter
Schwachkopf!«
»Ich dulde nicht, dass du in diesem Haus so mit mir
sprichst.
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