Totenbuch
soll.
»Ich muss momentan einige
Entscheidungen treffen, und deshalb lege ich meine Karten jetzt auf den
Tisch.« Beim Sprechen sprüht Speichel. Das Glas Bourbon in seiner Hand steht
gefährlich schief. »Es langweilt mich zu Tode, für dich zu arbeiten.«
»Falls du das wirklich so
empfindest, bin ich froh, dass du offen zu mir bist.« Allerdings führen ihre
Beschwichtigungsversuche nur dazu, dass er noch mehr in Rage gerät.
»Benton, der reiche Schnösel. Doktor Wesley. Und weil ich keinen
Doktortitel vorweisen kann, bin ich nicht gut genug für dich. Aber jetzt
verrate ich dir mal etwas: Für Shandy bin ich gut genug, und sie ist auch nicht
die Schlampe, für die du sie hältst. Sie kommt aus einer viel besseren Familie
als du und ist nicht in einem Armenviertel von Miami aufgewachsen, mit einem
Einwanderer-Vater, der in irgendeinem Supermarkt malocht hat.«
»Du bist betrunken. Wenn du
möchtest, kannst du im Gästezimmer schlafen.«
»Deine Familie ist nicht besser
als meine. Italiener, gerade erst vom Boot gekommen. Abend für Abend Makkaroni
mit Tomatensauce, um Geld zu sparen.«
»Lass mich ein Taxi für dich
rufen.«
Er knallt sein Glas auf den
Couchtisch. »Ich finde es eine viel bessere Idee, wenn ich mich jetzt in den
Sattel schwinge und losfahre.« Er muss sich an der Sessellehne festhalten.
»Du fasst das Motorrad nicht
an«, warnt sie.
Er geht los und stößt gegen den
Türrahmen, während sie seinen Arm umklammert. Als sie weiter versucht, ihn
aufzuhalten, und ihn anfleht, nicht zu fahren, schleppt er sie fast bis zur Tür
mit. Er kramt den Motorradschlüssel aus der Tasche, doch sie reißt ihn ihm aus
der Hand.
»Gib mir den Schlüssel, bevor
ich unhöflich werden muss.«
Scarpetta steht in dem kleinen
Flur an der Eingangstür und versteckt die Faust mit dem Schlüssel hinter dem
Rücken. »Auf keinen Fall steigst du auf dieses Motorrad. Du kannst ja kaum noch
gehen. Entweder nimmst du dir ein Taxi, oder du schläfst heute hier. Ich werde
nicht zulassen, dass du dich oder jemand anderen umbringst. Bitte, hör doch auf
mich.«
»Her damit!« Er glotzt sie mit
stumpfem Blick an. Plötzlich ist er ein Kleiderschrank von einem Mann, den
Scarpetta nicht mehr kennt, ein Fremder, der ihr womöglich wehtun wird. »Her
damit!« Als er ihr Handgelenk packt, ist sie starr vor Angst.
»Marino, lass mich los.«
Vergeblich versucht sie, ihren Arm seinem Schraubstockgriff zu entziehen. »Du
tust mir weh.«
Als er auch ihr anderes
Handgelenk umfasst, verwandelt sich ihre Angst in Panik. Sein gewaltiger Körper
drückt sie an die Wand. Verzweifelt zermartert sie sich das Hirn nach einem
Weg, ihn aufzuhalten, bevor er noch weiter geht.
»Marino, lass mich los. Du tust
mir weh. Komm, wir setzen uns wieder ins Wohnzimmer.« Obwohl er ihr die Arme
schmerzhaft nach hinten biegt, bemüht sie sich um einen ruhigen Ton. Er presst
sie fest an sich. »Marino. Hör auf. Du willst das doch gar nicht. Du bist betrunken.«
Er fängt an, sie zu küssen und
zu betatschen. Doch sie dreht den Kopf weg, schiebt seine Hände beiseite,
sträubt sich aus Leibeskräften und fleht ihn an, das zu lassen. Der
Motorradschlüssel fällt klappernd zu Boden, während er sie wieder küsst. Sie
wehrt sich weiter und versucht, ihn zum Zuhören zu bringen. Aber er reißt ihr
die Bluse auf. Sie schreit, dass er aufhören soll, und tut alles, um ihn zu
stoppen. Als er an ihren Kleidern zerrt, stößt sie ihn fort und wiederholt
ständig, dass er ihr wehtut. Aber irgendwann gibt sie die Überzeugungsversuche
auf. Er ist nicht mehr er selbst, nicht mehr Marino, sondern ein Fremder, der
sie in ihrem eigenen Haus angreift. Sie sieht die Pistole hinten in seinem
Hosenbund, als er auf die Knie fällt und sich mit Händen und Mund an ihr vergeht.
»Marino? Willst du mich wirklich
vergewaltigen? Marino?« Sie klingt so kühl und gelassen, als käme ihre Stimme
von außerhalb ihres Körpers. »Marino? Willst du das? Willst du mich vergewaltigen?
Ich weiß, dass du das nicht willst. Das weiß ich genau.«
Plötzlich hält er inne und lässt
sie los. Die Luft bewegt sich wieder und fühlt sich auf ihrer von seinem
Speichel befeuchteten und seinen groben Händen und seinen Bartstoppeln
aufgerauten Haut kühl an. Er schlägt die Hände vors Gesicht, fällt auf die
Knie, umfasst ihre Beine und beginnt zu schluchzen wie ein Kind. Während er
weint, zieht sie ihm vorsichtig die Pistole aus dem Hosenbund.
»Lass los.« Sie
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