Totenbuch
schon«, antwortet
sie.
Vier Uhr morgens in Hilton Head.
Schwere Wellen tragen weiße Gischt an den Strand. Es sieht aus, als hätte die
bewegte See Schaum vor dem Mund.
Will Rambo geht lautlos die
Holzstufen hinunter, schleicht sich den Steg entlang und klettert über das
abgeschlossene Tor. Die Villa im pseudoitalienischen Stil hat verputzte Mauern,
mehrere Kamine und ein mit roten Dachpfannen gedecktes steiles Satteldach und
strotzt nur so von Torbögen. Hinter dem Haus stehen kupferne Laternen und ein
Tisch mit Steinplatte, übersät mit schmutzigen Aschenbechern und leeren
Gläsern. Vor kurzem hat er hier ihren Autoschlüssel gefunden. Seitdem muss sie
den Ersatzschlüssel benutzen. Aber sie fährt sowieso nur noch selten und
bleibt meistens zu Hause. Während Will auf Zehenspitzen durch den Garten geht,
schwanken Palmen und Pinien im Wind.
Die Bäume bewegten sich wie Zauberstäbe. Rom lag
unter ihrem Bann. Blütenblätter wehten wie Schnee die Via di Monte Tarpeo
entlang. Die Mohnblumen leuchteten blutrot. Die Glyzinie, die sich die alten
Backsteinmauern hinaufrankte, war so violett wie ein Bluterguss. Tauben
trippelten über die Stufen, und zwischen den Ruinen fütterten Frauen wilde
Katzen mit auf Plastiktellern mitgebrachtem Whiskas und Eiern.
Ein schöner Tag für einen Spaziergang, denn es waren
kaum Touristen unterwegs. Sie war leicht beschwipst, schien sich in seiner
Gegenwart aber so wohl und sicher zu fühlen, wie er es geplant hatte.
»Ich würde dich gern mit meinem Vater bekannt
machen«, schlug er ihr vor, als sie auf einer Mauer saßen und die wilden Katzen
beobachteten. Sie hatte Mitleid mit den armen, durch Inzucht verkrüppelten
streunenden Katzen und fand, dass jemand sich um sie kümmern müsse.
»Das sind keine Streuner, sie sind wild. Das ist ein
Unterschied. Diese wilden Katzen wollen hier leben und würden dich in Stücke
reißen, wenn du versuchen würdest, sie zu retten. Sie wurden nicht ausgesetzt
und führen kein elendes Dasein, das nur daraus besteht, die Mülltonnen zu
durchwühlen und sich in Löchern zu verstecken, bis sie jemand einfängt und
einschläfert.«
»Warum sollte man sie denn einschläfern?«, fragte
sie.
»Einfach so. Jedenfalls würde das passieren, wenn
man sie von ihrem Zufluchtsort vertreibt. Dann wären sie nämlich vielen
Bedrohungen ausgesetzt, würden von Autos überfahren oder von Hunden gejagt und
wären immer auf der Flucht. Das würden sie nicht lange überleben. Schau dir
dagegen diese Katzen an. Sie werden in Ruhe gelassen, und niemand kommt ihnen
zu nah, wenn sie es nicht wollen. Sie fühlen sich wohl hier unten in den
Ruinen.«
»Du bist komisch«, sagte sie und versetzte ihm einen
Rippenstoß. »Jedenfalls habe ich das anfangs gedacht. Aber ich finde dich
trotzdem süß.«
»Komm«, sagte er und half ihr von der Mauer.
»Mir ist heiß«, beklagte sie sich. Denn er hatte ihr
seinen langen schwarzen Mantel umgelegt und ihr eine Mütze und seine dunkle
Brille aufgesetzt, obwohl es weder kühl noch sonnig war.
»Du weißt doch genau, dass die
Leute dich sonst anstarren würden, weil du so berühmt bist«, erklärte er. »Und
so etwas wollen wir doch vermeiden.«
»Ich muss zu meinen Freundinnen.
Sonst glauben die noch, ich wäre entführt worden.«
»Komm. Schau dir zuerst die
Wohnung an. Sie ist wirklich beeindruckend. Ich fahre dich hin. Du bist sicher
müde. Deine Freundinnen kannst du ja von dort aus anrufen und sie zu uns
einladen. Wir haben guten Wein und Käse da.«
Dann war da Dunkelheit, so als
wäre in seinem Kopf ein Licht ausgegangen. Als er aufwachte, sah er Szenen,
zusammengesetzt aus schimmernden Splittern, die an die Scherben eines zerbrochenen
Buntglasfensters erinnerten, das früher eine - vielleicht wahre - Geschichte
erzählt hat.
Die Treppe an der Nordseite des
Hauses ist schon lange nicht mehr gefegt worden. Seit die Haushälterin zum
letzten Mal vor knapp zwei Monaten hier gewesen ist, hat niemand die Tür zur
Waschküche geöffnet. Zu beiden Seiten der Treppe wachsen Hibiskusbüsche. Hinter
einer Glasscheibe sieht er die Bedienungskonsole der Alarmanlage, auf der ein
rotes Lämpchen leuchtet. Er öffnet den Anglerkoffer und holt einen
Glasschneider mit gebogenem Griff und Karbidklinge heraus. Nachdem er ein Loch
in die Scheibe gesägt hat, legt er das herausgeschnittene Stück auf die sandige
Erde hinter die Büsche. Drinnen beginnt der Welpe in seinem Zwinger zu bellen.
Will verharrt ganz ruhig. Er
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