Totenbuch
es nicht vorangeht, und legen
immer wieder Blumen am Rand der Baustelle ab, wo die Leiche gefunden wurde.«
Weitere Filmausschnitte. Rose
bemüht sich wegzuschauen, denn schließlich hat sie die Filmsequenzen schon oft
genug gesehen. Doch sie kann den Blick nicht davon abwenden.
Drew
schlägt eine Rückhand.
Drew
stürmt zum Netz. Ihr Schmetterball fliegt bis zur Zuschauertribüne. Das
Publikum springt auf und spendet tosenden Beifall.
Drews
hübsches Gesicht in Dr. Selfs Sendung. Sie spricht schnell und wechselt
sprunghaft immer wieder das Thema, offenbar aufgeregt, weil sie gerade die
U.S. Open gewonnen hat und als »Tiger Wood des Tennis« bezeichnet worden ist.
Dr. Seif beugt sich vertraulich zu ihr hinüber und bohrt aufdringlich in ihrem
Privatleben herum.
»Sind Sie noch Jungfrau, Drew?«
Drew
lacht und schlägt errötend die Hände vors Gesicht.
»Nicht so schüchtern.« Dr. Seif
lächelt herablassend. »Diese Frage stelle ich allen meinen Gästen.« Dann, ans
Publikum gewandt: »Scham. Warum schämen wir uns, wenn wir über Sex sprechen?«
»Ich habe meine Jungfräulichkeit
mit zehn verloren«, sagt Drew. »Und zwar an das Fahrrad meines Bruders.« Das
Publikum tobt.
»Drew Martin, tot mit süßen
sechzehn«, verkündet der Nachrichtensprecher.
Rose schafft es, das Sofa quer
durchs Wohnzimmer zur Wand zu schieben. Dann setzt sie sich darauf und bricht
in Tränen aus. Doch schon im nächsten Moment springt sie wieder auf und läuft
weinend im Zimmer hin und her. Sie hasse den Tod, schluchzt sie. Gewalt könne
sie nicht ertragen. Sie hasse auch sie, ja, sie hasse eigentlich die ganze
Welt. Rose holt ein Döschen mit vom Arzt verschriebenen Tabletten aus dem Bad
und schenkt sich in der Küche ein Glas Wein ein. Dann spült sie eine Tablette
mit Wein hinunter. Da sie wieder zu husten beginnt und nach Atem ringt, nimmt
sie kurz darauf die zweite Tablette. Als das Telefon läutet, ist sie so unsicher
auf den Beinen, dass sie danebengreift, den Hörer fallen lässt und ihn erst mühsam
wieder aufheben muss.
»Hallo?«
»Rose?«, fragt Scarpetta.
»Ich sollte mir die Nachrichten
nicht anschauen.“
»Weinen Sie?«
Das Zimmer dreht sich. Sie sieht
doppelt. »Es ist nur die Grippe.“
»Ich komme sofort«, erwidert
Scarpetta.
Marino lässt den Kopf an die
Kopfstütze sinken. Seine Augen sind hinter einer dunklen Brille verborgen,
seine Pranken ruhen auf seinen Oberschenkeln.
Er trägt dieselben Sachen wie
gestern Nacht, und man merkt ihnen an, dass er auch darin geschlafen hat. Sein
Gesicht ist hochrot, und er dünstet den muffigen Geruch eines Betrunkenen aus,
der sich seit einer Weile nicht mehr gewaschen hat. Sein Anblick und Gestank
rufen in Scarpetta Erinnerungen wach, die sie lieber vergessen würde. Außerdem
spürt sie schmerzhaft die Abschürfungen an Körperstellen, die er nie hätte
sehen oder berühren dürfen. Sie hat sich in Schichten von Baumwolle und Seide
gehüllt, Stoffe, die sanft auf der Haut liegen. Ihre Bluse ist bis oben
zugeknöpft, der Reißverschluss der Jacke hochgezogen. Um ihre Verletzungen zu
verstecken. Und die Demütigung. In seiner Gegenwart fühlt sie sich machtlos und
wie nackt.
Während der Fahrt herrscht
dröhnendes Schweigen. Im Auto riecht es nach Knoblauch und würzigem Käse,
obwohl das Beifahrerfenster offen steht.
»Das Licht tut mir in den Augen
weh«, beschwert er sich. »Nicht auszuhalten. Es bringt mich noch um.«
Das hat er schon einige Male
wiederholt, wohl um die unausgesprochene Frage zu beantworten, warum er
Scarpetta nicht ansieht und trotz des bewölkten regnerischen Himmels die
Sonnenbrille nicht abnimmt. Als sie ihm vor einer knappen Stunde Kaffee und
trockenen Toast ans Bett gebracht hat, hat er sich stöhnend aufgesetzt und
sich den Kopf gehalten. Sein »Wo bin ich?« klang jedoch nicht sehr überzeugend.
»Du warst gestern Abend sehr
betrunken.« Sie stellte Kaffee und Toast neben das Bett. »Schon vergessen?«
»Wenn ich was esse, muss ich
kotzen.«
»Erinnerst du dich an letzte
Nacht?«
Trotz seiner Antwort, er wisse
nur noch, dass er auf seinem Motorrad zu ihr gefahren sei, sagte ihr seine
Miene, dass die Gedächtnislücke nur vorgetäuscht war. Doch die Übelkeit hat
offenbar nicht nachgelassen.
»Warum musstest du das ganze
Auto mit Lebensmitteln vollpacken? Mir wird schlecht, wenn ich Essen rieche.“
»Dein Pech. Rose hat die
Grippe.«
Scarpetta stellt den Wagen auf
dem Parkplatz neben dem Haus ab, in dem Rose
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