Totenbuch
Rose wird
langsam ungeduldig. Schließlich hat sie ihm mehrere Nachrichten mit dem Inhalt
hinterlassen, sie werde heute Vormittag nicht im Büro sein. Außerdem hat sie
ihn gebeten, vorbeizuschauen und ihr beim Umstellen ihres Sofas zu helfen.
Hinzu kommt, dass sie dringend mit ihm reden muss. Sie hat es Scarpetta
versprochen - und
was man heute kann besorgen ... Inzwischen ist es kurz vor zehn. Als sie wieder Marinos
Mobilfunknummer wählt, springt sofort die Mailbox an. Rose sieht aus dem
offenen Fenster. Vom Deich weht kühle Luft herüber. Das Wasser ist aufgewühlt
und bewegt und hat eine zinngraue Farbe.
Eigentlich müsste ihr Verstand
ihr davon abraten, das Sofa allein verrücken zu wollen. Doch mittlerweile ist sie
ungeduldig und gereizt genug, um es auf einen Versuch ankommen zu lassen.
Hustend sagt sie sich, dass es Wahnsinn wäre, es zu wagen, auch wenn solch ein
Unterfangen vor nicht allzu langer Zeit verhältnismäßig mühelos zu bewältigen
gewesen wäre. Müde sitzt sie da und schwelgt in Erinnerungen an den vergangenen
Abend. Auf ebendiesem Sofa haben sie miteinander gesprochen, sich an den Händen
gehalten und sich geküsst, und Rose hat Dinge empfunden, die sie längst
verloren geglaubt hatte. Allerdings hat sie sich dabei gefragt, wie lange es
wohl dauern wird. Die Zeit wird knapp, und der Abschied wird ihr schwerfallen.
Plötzlich wird sie von einer Trauer ergriffen, die so tief und düster ist, dass
es zwecklos wäre, sie ergründen zu wollen.
Das Telefon läutet: Lucy.
»Wie ist es gelaufen?«, fragt
Rose.
»Nate lässt Grüße bestellen.«
»Mich interessiert eher seine
Diagnose.«
»Nichts Neues.«
»Das ist doch ausgezeichnet.«
Rose geht zum Küchentresen und greift nach der Fernbedienung des Fernsehers.
Sie holt tief Luft. »Marino wollte eigentlich herkommen und mein Sofa
umstellen, aber wie immer ...«
Eine Pause. »Das ist einer der
Gründe, warum ich anrufe«, erwidert Lucy dann. »Ich wollte Tante Kay einen
Besuch abstatten und ihr von meinem Termin mit Nate erzählen. Sie weiß nämlich
nicht, dass ich bei ihm war. Ich erwähne es immer lieber erst danach, damit
sie sich nicht mit Sorgen zermürbt. Marinos Motorrad steht vor ihrem Haus.«
»Hat sie Sie erwartet?«
»Nein.«
»Um wie viel Uhr war das?“
»Gegen acht.«
»Unmöglich. Um acht liegt Marino
normalerweise noch im Koma«, antwortet Rose. »Wenigstens in letzter Zeit.«
»Also bin ich zu Starbucks
gefahren und etwa um neun zu ihrem Haus zurückgekehrt. Und wissen Sie was? Ich
bin seiner Kartoffelchips-Freundin in ihrem BMW begegnet.«
»War das auch sicher keine
Verwechslung?«
»Soll ich Ihnen ihr
Autokennzeichen oder ihr Geburtsdatum durchgeben? Oder wollen Sie ihren
Kontostand wissen - übrigens nicht gerade üppig. Offenbar hat sie den Großteil
ihrer Kohle zum Fenster rausgeworfen. Außerdem scheint ihr reicher Daddy ihr in
seinem Testament nichts vermacht zu haben. Das an sich spricht doch schon
Bände. Allerdings hat sie in letzter Zeit immer wieder Geld aus unbekannter
Quelle eingezahlt und es in null Komma nichts wieder ausgegeben.«
»Klingt gar nicht gut. Hat sie
Sie bemerkt?«
»Ich war im Ferrari unterwegs.
Sie müsste also nicht nur eine blöde Fotze, sondern auch blind ...
Entschuldigung.«
»Kein Problem. Ich weiß, was
eine Fotze ist, und der Ausdruck passt vermutlich. Aber leider hat Marino
anscheinend eine Schwäche für solche Frauen.«
»Sie klingen gar nicht gut. So
als ob Sie nicht richtig Luft kriegen«, sagt Lucy. »Soll ich vorbeikommen und
Ihnen mit dem Sofa helfen?«
»Ich bin zu Hause«, erwidert
Rose. Sie hustet, während sie auflegt.
Als sie den Fernseher
einschaltet, sieht sie, wie ein Tennisball im Aus eine rote Staubwolke
aufwirbelt. Drew Martins Aufschläge sind so schnell und unerreichbar, dass ihre
Gegnerin offenbar das Handtuch geworfen hat. CNN bringt Aufzeichnungen von den
letztjährigen French Open und berichtet unverdrossen weiter über Drew. Immer
wieder Beiträge über ihre Tennisturniere, ihr Leben und ihren Tod in
Endlosschleife. Schon wieder neue Bilder. Rom. Die Altstadt. Dann die kleine
Baustelle, von der Polizei mit gelbem Band abgesperrt. Zuckende Blaulichter.
»Was können wir derzeit sagen?
Gibt es neue Entwicklungen?«
»Die römischen Behörden hüllen
sich weiterhin in Schweigen. Wie es aussieht, gibt es weder Hinweise noch
Verdächtige, sodass dieses grausige Verbrechen auch weiterhin ein Geheimnis
bleibt. Die Einheimischen fragen sich, warum
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