Totenbuch
Sofa. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Gesicht ist aschfahl. Lange
schneeweiße Haarsträhnen haben sich aus ihrem Dutt gelöst.
»Ruf sofort einen Krankenwagen!«
Scarpetta schiebt Rose einige Kissen hinter den Kopf, um ihn zu stützen,
während Marino telefoniert.
Sie fühlt Rose den Puls:
einundsechzig.
»Sie kommen gleich«, meldet
Marino.
»Geh und hol meinen Arztkoffer
aus dem Auto.«
Er rennt hinaus. Auf dem Boden,
fast verborgen unter dem Sofaüberwurf, bemerkt Scarpetta ein Weinglas und ein
Döschen mit einem verschreibungspflichtigen Medikament. Es überrascht sie, dass
Rose Roxicodone nimmt, ein Markenname für Oxycodon, ein Schmerzmittel auf
Opiatbasis, berüchtigt dafür, dass es rasch abhängig macht. Laut Aufschrift
auf dem Döschen wurde das Rezept für hundert Tabletten vor zehn Tagen
eingelöst. Scarpetta öffnet es und zählt die grünen Tabletten zu je fünfzehn
Milligramm. Es sind noch siebzehn übrig.
»Rose!« Scarpetta schüttelt sie.
Rose ist heiß und verschwitzt. »Rose, wachen Sie auf! Können Sie mich hören,
Rose?«
Scarpetta holt einen feuchten
Waschlappen aus dem Bad, legt ihn Rose auf die Stirn, hält ihre Hand und redet
auf sie ein, um sie zu wecken. Kurz darauf kehrt Marino zurück. Er wirkt
besorgt und ängstlich, als er Scarpetta den Koffer reicht.
»Sie hat das Sofa verrückt.
Eigentlich hätte ich das tun sollen.« Seine dunkle Sonnenbrille richtet sich
auf das Möbelstück.
Als in der Ferne eine Sirene
aufheult, bewegt sich Rose. Scarpetta nimmt eine Blutdruckmanschette und ein
Stethoskop aus der Tasche.
»Ich hatte versprochen, ihr
dabei zu helfen«, fährt Marino fort. »Aber sie hat es doch selbst getan. Vorher
stand es da drüben.« Die dunkle Sonnenbrille weist zu der freien Stelle neben
dem Fenster.
Scarpetta schiebt Roses Ärmel
hoch, setzt das Stethoskop auf und wickelt dann die Manschette des
Blutdruckmessers eng um die Armbeuge.
Die Sirene ist sehr laut.
Sie betätigt den Blasebalg und
öffnet dann das Ventil, damit die Luft langsam entweichen kann. Dann lauscht
sie, wie das Blut durch die Arterie strömt. Es zischt leise, als die Manschette
Luft verliert.
Die Sirene verstummt. Der
Krankenwagen ist da.
Systolischer Blutdruck
sechsundachtzig, diastolischer achtundfünfzig. Sie lässt das Stethoskop über
Roses Brust und Rücken gleiten. Verlangsamte Atmung und Blutdruckabfall.
Rose bewegt sich und hebt den
Kopf.
»Rose?«, sagt Scarpetta laut.
»Können Sie mich hören?«
Ihre Augenlider öffnen sich.
»Ich messe jetzt Ihre
Temperatur.« Sie schiebt Rose ein Digitalthermometer unter die Zunge. Wenige
Sekunden später piept es: 38,5 Grad. Scarpetta hält das Tablettendöschen hoch. »Wie viele
haben Sie genommen?«, fragt sie. »Und wie viel Wein haben Sie getrunken?«
»Es ist nur eine Grippe.«
»Haben Sie das Sofa etwa selbst
verrückt?«, erkundigt sich Marino, als ob das weiter wichtig wäre.
Sie nickt. »Ich habe mich nur
überanstrengt. Mehr ist es nicht.«
Rasche Schritte und das Klappern
einer rollbaren Trage auf dem Flur. Die Sanitäter sind da.
»Nein!«, protestiert Rose.
»Schicken Sie sie weg.«
Zwei Sanitäter in blauen
Overalls stehen in der Tür und schie ben den Rollwagen in die
Wohnung. Darauf befinden sich ein Defibrillator und weitere Gerätschaften.
»Nein«, sagt Rose und schüttelt
den Kopf. »Es ist alles in Ordnung. Ich will nicht ins Krankenhaus.«
Ed erscheint an der Tür und
wirft einen besorgten Blick in den Raum.
»Was fehlt Ihnen denn, Ma'am?«
Ein Sanitäter, blond mit hellblauen Augen, nähert sich dem Sofa, betrachtet
Rose und beäugt Scarpetta argwöhnisch.
»Nein.« Rose wedelt abwehrend
mit den Händen. »Das meine ich ernst! Bitte gehen Sie. Ich bin nur in Ohnmacht
gefallen.«
»Das stimmt nicht«, meint Marino
zu ihr, doch seine dunkle Brille ist auf den blonden Sanitäter gerichtet. »Ich
musste die gottverdammte Tür eintreten.«
»Wehe, wenn Sie sie nicht
reparieren, bevor Sie gehen«, murmelt Rose.
Scarpetta stellt sich vor und
erklärt, Rose habe offenbar Alkohol mit Roxicodone vermischt und sei bei ihrer
Ankunft bewusstlos gewesen.
»Ma'am?«, wendet sich der blonde
Sanitäter an Rose. »Wie viel Alkohol und Roxicodone haben Sie eingenommen und
wann?«
»Eine Tablette mehr als
gewöhnlich. Also drei. Und einen Schluck Wein. Nur ein halbes Glas.«
»Ma'am, es ist sehr wichtig,
dass Sie mir ehrlich antworten.«
Scarpetta reicht ihm das
Tablettendöschen. »Eine Tablette alle vier bis sechs
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