Totenbuch
Teppich,
setzt sich neben sie aufs Sofa und blickt tief in ihre glasigen,
blutunterlaufenen Augen, in denen sich Panik breitmacht. Wimpern hat sie keine
mehr, weil sie sich alle ausgerissen hat. Sie macht keine Anstalten,
aufzustehen und zu fliehen. Als er ihr wieder mit einer Kopfbewegung bedeutet,
dass sie trinken soll, gehorcht sie. Offenbar hat sie sich schon mit dem
abgefunden, was jetzt geschehen wird. Sie wird ihm dankbar sein.
Der Film läuft so laut, dass er
alles übertönt. »Bitte, tun Sie mir nicht weh«, liest er ihr von den Lippen ab.
Früher ist sie einmal hübsch gewesen.
»Pssst.« Wieder bringt er sie
mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. Sein sandiger Finger berührt erneut ihre
Lippen und presst sich fest an ihre Zähne. Dann öffnet er den Anglerkoffer.
Darin befinden sich weitere Röhrchen mit Klebstoff und Klebstoffentferner
sowie die Tüte mit Sand und eine achtzehn Zentimeter lange zweischneidige
Laubsäge mit schwarzem Griff und Ersatzsägeblättern und dazu verschiedene
Bastlermesser.
Die Stimme in seinem Kopf. Rogers
Schreie. Blutiger Schaum quillt ihm über die Lippen. Nur dass es nicht Roger
ist, der da schreit, sondern eine Frau. »Bitte tun Sie mir nicht weh!«, fleht
sie mit blutigen Lippen.
Währenddessen fordert Glenn
Close Michael Douglas auf, sich zu verpissen. Der Ton des Films hallt in dem
großen Raum wider.
Sie schluchzt in Todesangst und
zuckt, als hätte sie einen Anfall. Er zieht die Beine hoch und lässt sich im
Schneidersitz nieder. Als sie seine Schmirgelpapier-Hände, seine sandigen
Fußsohlen und den Anglerkoffer und die Kamera auf dem Boden bemerkt, spiegelt
sich die Erkenntnis des Unvermeidlichen in ihrem geröteten, verquollenen
Gesicht. Er sieht ihre ungepflegten Nägel und wird von demselben Gefühl
ergriffen wie immer, wenn er Menschen, die Unerträgliches erleiden, in seine
starken Arme nimmt und sie von ihren Qualen erlöst.
Die Bässe des Lautsprechers
dringen ihm bis ins Mark.
Ihre wunden, blutigen Lippen
bewegen sich. »Bitte tun Sie mir nicht weh, bitte, bitte nicht«, schluchzt sie.
Ihre Nase läuft, und sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen. »Was wollen
Sie von mir? Geld? Bitte tun Sie mir nichts.« Ihre Lippen zucken.
Er zieht Hemd und Khakihose aus,
faltet sie ordentlich zusammen und legt sie auf den Couchtisch. Obenauf kommt
die Unterwäsche. Er spürt seine Macht, die ihm ins Gehirn fährt wie ein
elektrischer Schlag. Dann packt er sie fest an den Handgelenken.
11
Morgengrauen. Es sieht nach
Regen aus.
Rose blickt aus dem Fenster
ihrer Eckwohnung und betrachtet das Meer, das sanft an den Deich auf der
anderen Seite des Murray Boulevard schwappt. Rings um das Haus, in dem sie
wohnt - ein ehemaliges Luxushotel -, gruppieren sich einige der teuersten
Villen von Charleston, prachtvolle Anwesen direkt am Strand, die Rose
fotografiert und deren Bilder sie in ein Album eingeklebt hat. Hin und wieder
blättert sie darin, denn sie fühlt sich von den Ereignissen der letzten Zeit
überrollt. Ihr Leben ist gleichzeitig ein Traum und ein Albtraum geworden.
Beim Umzug nach Charleston war
ihre einzige Bedingung gewesen, dass sie am Wasser wohnen will. »Nah genug,
damit ich merke, dass es da ist«, lauteten ihre Worte. »Wahrscheinlich ist es
das letzte Mal, dass ich Ihnen irgendwohin folge«, hat sie dann zu Scarpetta
gemeint. »In meinem Alter habe ich keine Lust mehr auf Gartenarbeit, und
außerdem wollte ich schon immer am Wasser leben - allerdings nicht an einem
Sumpf, wo es nach faulen Eiern riecht. Für mich wäre es das Schönste, das Meer
in Laufnähe zu haben.« 1
Die Wohnungssuche hatte eine
geraume Zeit in Anspruch genommen. Schließlich fand Rose die heruntergekommene
Wohnung am Ashley River, die Scarpetta, Lucy und Marino für sie renoviert
haben, ohne dass es sie einen Penny gekostet hätte. Anschließend hat Scarpetta
auch noch ihr Gehalt erhöht, da Rose sich die Miete sonst nie hätte leisten
können. Allerdings hat nie jemand ein Wort darüber verloren. Scarpetta sagte
nur, Charleston sei im Vergleich mit den Städten, wo sie früher gelebt hätten,
ein teures Pflaster. Und selbst wenn das nicht ganz stimme, habe Rose eine
Gehaltserhöhung wirklich verdient.
Rose macht sich einen Kaffee und
sieht sich die Nachrichten an, während sie auf Marinos Anruf wartet. Wieder
vergeht eine Stunde, und allmählich fragt sie sich, wo er wohl stecken mag.
Eine weitere Stunde verstreicht, ohne dass er sich gemeldet hätte.
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