TotenEngel
junge Tramper und schließlich die Reisegruppen. Der Geruch von brennendem Gras aus den Coffeeshops erfüllte die Luft und vermengte sich mit dem fast greifbar in der Luft hängenden Geschmack deftig gewürzter Speisen, und die angestaubte Hitparadenmusik, die aus den Türen der Kneipen und Cafés schallte, wurde lauter.
Mit Anbruch der Dunkelheit, lange nachdem die Schulkinder heimgekommen waren, bevölkerten Biker, Taschendiebe, Trickbetrüger und Heroindealer die Straßen. Farbige Zuhälter begannen ihre Runden, begrüßten sich mit Handschlag und lehnten zu dritt oder viert an den verschnörkelten Eisengeländern der kleinen Brücken. In den Erdgeschossfenstern zeigten Frauen aller Altersstufen mit ausdruckslosen Gesichtern ihre blassen oder dunklen Körper vor dem Hintergrund der abwaschbaren weiß gekachelten Kabinenwände. Immer mehr Touristen strömten in Pulks über die Uferstraßen. Minderjährige Jugendliche versuchten, durch die offenen Türen einen Blick ins Innere der Striptease-Lokale zu erhaschen. An den Mauern der Oude Kerk lehnten flachbrüstige Transvestiten in Glitzerkleidern und schnalzten mit den Zungen wie mit gezuckerten Peitschen.
Seit den frühen Morgenstunden waren die Wijkagenten des zweiten Distrikts hier von Tür zu Tür gegangen und hatten jedem Bewohner, soweit sie ihn zu Hause antrafen, das Bild des toten Gerrit Zuiker gezeigt und nach seinen Beobachtungen in der vergangenen Nacht befragt. Der Anruf, dass es tatsächlich eine Zeugin gab, die Zuiker kurz vor seinem Tod lebend gesehen hatte, erreichte den Commissaris, als er sich gerade von der Frau des Lehrers verabschiedete. Der Name der Zeugin lautete Cherry.
Inzwischen hatten sich die Schulkinder längst zu Hause eingefunden, und die Wagen der Straßenreinigung waren in die Depots zurückgekehrt. Denn de wallen, das Amüsierviertel von Amsterdam, hatte zwei Arten von Bewohnern, die sich wie Wettermännchen nie zur selben Zeit zeigten. Es gab nur wenige Ausnahmen. Eine davon war Commissaris van Leeuwen. Er kannte das Viertel zu jeder Stunde, bei jedem Wetter und jedem Licht, im Sommerund im Winter. Er wusste, zu welcher sozialen Klimazone Cherry gehörte, als er sie sah, und er hätte es auch gewusst, wenn er ihr in einer anderen Gegend unter weniger eindeutigen Umständen begegnet wäre.
Sie hatte das Gesicht eines Engels auf einem Renaissance-Gemälde, genauer, sie hätte es gehabt, wenn es den Malern jener Epoche gestattet gewesen wäre, Engel zu malen, die nur ein kleines bisschen gefallen waren. Engel, die außer der Tugend auch das Laster kannten und zumindest hin und wieder einen Zeh in das trübe Gewässer der Sünde tauchten, um seine Temperatur zu fühlen. Sie war schön auf die reine Weise eines solchen Gemäldes, mit lockigem, goldblondem Haar, einem schmalen Gesicht und ausgeprägten, hohen Wangenknochen. Aber was den eigentlichen Reiz ihrer Schönheit ausmachte, war der Umstand, dass vielleicht das Gemälde rein sein mochte, sie dagegen nicht. Ihre Augen, grünbraun, waren misstrauisch, kühl und traurig, und nur etwas ganz vorn darin spielte Fröhlichkeit vor, den guten Kumpel, jemand, mit dem man Spaß haben konnte. Die zierliche Nase lief in dünnen Flügeln aus, dafür war der Mund groß und voll, und man brauchte nicht viel Erfahrung, um zu wissen, dass es dieser Mund war, der die Männer nach dem Preis fragen ließ.
Mit richtigem Namen hieß sie Gretjen Mol. Sie stand in der offenen Tür ihrer Kabine gegenüber der Oude Kerk und sprach leise, aber eindringlich in ihr Handy. An ihrem linken Ohr blinkte ein Kupferring mit einem grünen Stein. Ihre langen Beine waren nackt bis auf Stilettos aus schwarzem Lackleder, und auch sonst hatte sie nicht viel an, nur ein Höschen aus schwarzer Spitze und einen schwarzen Büstenhalter, der die Brüste stützte, aber frei ließ. Die Brustwarzen waren steif und dunkelrot wie kleine Kirschen.
»Ach, du beschützt mich also?!«, meinte sie. »Wo warst du denn gestern Nacht, als mich irgend so ein verrückter Mistkerl beinahe umgebracht hätte? Ich kann von Glück sagen, dass ich noch am Leben bin, so wie es auf den Straßen hier zugeht. Schau dir die Typen doch mal an, die heutzutage unterwegs sind – Verrückte, Perverse, Killer mit bunten Tätowierungen am ganzen Körper. Davergeht einem jede Lust, mit diesem Job weiterzumachen, ich habe jedenfalls keine mehr. Jeder Mann meint, er kann meinen Körper in ein Schlachtfeld verwandeln und dann wie ein Gockel auf den Trümmern
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