Totenfeuer
Herma Lütze dann doch einmal Luft holen, was Jule ausnutzt, um sie zu fragen: »Haben Sie am Samstagabend oder in der Nacht Licht im Haus gesehen?«
»Nein, ich bin um sechs Uhr aus dem Haus gegangen, und da war es ja noch hell, und zurückgekommen bin ich erst um zwölf Uhr in der Nacht, und da war es da drüben dunkel. Ich war auf dem Geburtstag meiner Nichte.«
»Stand sein Auto vor der Tür?«
»Liebes Mädchen, Sie stellen vielleicht Fragen. Darauf habe ich nun wirklich nicht geachtet. Wissen Sie, ich war ja auch nicht mehr ganz nüchtern, ich bin mit dem Taxi nach Hause gekommen.«
»Haben Sie ihn am Sonntagmorgen aus dem Haus gehen sehen oder seinen Wagen gehört?«, fragt Jule und fügt in Gedanken hinzu: Oder mussten Sie Ihren Rausch ausschlafen?
Herma Lützes schmal gezupfte Augenbrauen schnellen nach oben. »Nein, wo denken Sie hin? Ich schlafe immer bis acht Uhr, mindestens, und wenn der mit seiner Flinte um die Häuser zieht, dann steht der schon mit den Hühnern auf. Das ist nichts für mich, nein danke, ich bin eine Nachteule.«
»Hatte Ihr Nachbar Besuch in letzter Zeit? Vielleicht Damenbesuch?«
»Nein«, kommt es prompt. »Den hat schon lange niemand mehr besucht, höchstens die Anna.«
»Wer wohnt in dem Haus links neben Felks?«
»Die Pfalzgrafs. Die sind aber schon am Donnerstag nach Dänemark gefahren und kommen erst kurz vor Ende der Ferien wieder. Beide Lehrer, aber ganz nett.«
Jule bedankt sich für die Auskünfte und hinterlässt der Dame ihre Visitenkarte. »Ach, noch eins: Haben Sie die Tage mal Felks Hund hier herumstreunen sehen?«
»Nein. Der wäre mir gleich aufgefallen, dieser üble Katzenkiller.«
Jule geht zurück ins Haus.
»Wo warst du denn so lange?«, fragt Fernando, der mit Anna gerade aus dem Keller kommt.
»Schwätzchen mit der Nachbarin.«
»Ach, die Lütze«, bemerkt Anna. »Die hört ja gerne das Gras wachsen. Sie war mal Schauspielerin, ab und zu kriegt sie sogar noch ’ne Rolle, als Hexe vermutlich.«
»Wir sind dann erst mal hier fertig, oder, Fernando?«
»Kann ich noch hierbleiben?«, fragt Anna.
»Nein. Die Spurensicherung wird das Haus untersuchen«, erklärt Jule. »Haben Sie da drin etwas verändert? Gestern oder vorhin?«
»Nein, nichts«, antwortet Anna.
»Wir brauchen Ihre Fingerabdrücke zum Vergleich. Das reicht aber morgen auch noch.«
»Wir bringen Sie zur S -Bahn, einverstanden?«, schlägt Fernando vor.
Anna nickt. Sie ist blass und sieht müde aus.
»Ich möchte mal wissen, was Völxen treibt«, sagt Fernando zu Jule, als sie im Wagen sitzen. »Sollen wir ihn mal anrufen?«
»Lieber nicht«, rät Jule. »Der meldet sich schon, wenn er was will.«
»Dieses elende, gottverdammte Mistvieh.« Bodo Völxen betrachtet die Abdrücke in der feuchten Erde. Ihre Herkunft ist eindeutig. Keine Chance, die Übeltat auf Wildschweine zu schieben, ein Gedanke, der Völxen, zugegeben, ganz flüchtig streifte.
»Tja, das kann man so sagen. Er hat wohl den Elektrozaun umgerissen und eine Latte am Zaun durchbrochen«, analysiert Jens Köpcke glasklar. »Und dann hat er es sich schmecken lassen.«
Und zwar gründlich. Das Gemüsebeet, der ganze Stolz von Hanne Köpcke, sieht aus, als hätte die Bundeswehr ein Manöver darin abgehalten. Was gestern noch in geraden Reihen sauber voneinander abgegrenzt dem Licht zustrebte, ist bis auf den letzten grünen Halm kahlgefressen, einzig ein paar beschriftete Plastikschildchen wurden verschmäht und liegen noch wie zum Hohn herum: Rucola, Pflücksalat, Lauch, Petersilie …
»Und als Hanne auf ihn zu ist, ist er ab wie die Feuerwehr. Als ob das Biest gewusst hätte, dass es was angestellt hat«, berichtet der Nachbar weiter.
»Ich fürchte, ich habe vergessen, den Strom anzustellen, ich Trottel!« Völxens Reue gilt in Wahrheit nur sehr am Rande den zerstörten Pflanzen seiner Nachbarin. Gemüse gibt es schließlich auch im Supermarkt, und Hanne Köpcke wird sich schon wieder beruhigen. Aber was, wenn Amadeus etwas passiert, wenn er vor ein Auto läuft, womöglich gar einen schweren Unfall provoziert?
»Der Bock ist noch nicht wieder aufgetaucht?«, bohrt Köpcke in der offenen Wunde.
»Siehst du ihn etwa?«, versetzt Völxen und deutet anklagend über den Zaun. Lediglich Angelina, Mathilde, Salomé und Doris stehen auf der Weide, stoisch wiederkäuend, als wäre nichts geschehen.
Sabine, die noch Osterferien hat, radelt seit heute Morgen in der Gegend herum und sucht nach dem Tier, ebenso Wanda, die
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