Totenfeuer
und darunter die Telefonnummer. Oda fragt sich, ob das die richtige Gegend für einen Geistheiler ist. Sie kennt die Südstadt als recht bodenständigen, nahezu krawattenfreien Bezirk, in dem Pensionierte in günstigen Genossenschaftswohnungen leben. Ist das Felks Klientel? Wäre so ein Laden nicht viel besser in der List aufgehoben oder in Kirchrode, wo ältere, betuchte Witwen in ihren Gründerzeitvillen herumgeistern und bereit sind, für ihre Zipperlein und etwas Zuwendung viel Geld lockerzumachen? Oder es sind gerade die braven, angepassten Bürger, die hier nach dem Kick suchen, einer Botschaft, die sie über ihre fade diesseitige Existenz hinwegtröstet und weit darüber hinausweist.
Vor der Tür wartet bereits ein Mann, der sich Oda höflich vorstellt. »Mein Name ist Tian Tang. Sie sind bestimmt Hauptkommissarin Kristensen.«
Für einen Chinesen ist er ziemlich groß, über eins achtzig, aber vielleicht, so überlegt Oda, ist das mit den kleinen Chinesen auch nur ein Vorurteil. Ansonsten entspricht Herr Tang recht exakt dem Bild, das man gemeinhin von Chinesen hat, bis hin zum sprichwörtlichen asiatischen Gleichmut. Seiner Miene hinter der Designerbrille kann Oda jedenfalls nicht entnehmen, ob ihn der Tod seines Kompagnons traurig macht oder nicht. Auch sein Alter lässt sich schwer schätzen. Irgendwas zwischen Mitte dreißig und fünfzig. Er trägt eine Jeans mit Bügelfalte und ein tadellos sauberes weißes T -Shirt mit langen Ärmeln. Aus einem kleinen Rucksack nimmt er nun ein Schlüsselbund und öffnet mit einem davon die schwere Holztür.
»Ich weiß nicht, was Sie hier zu finden hoffen, aber sehen Sie sich ruhig um.« Er spricht ein gepflegtes hannoversches Hochdeutsch, seine Stimme ist sanft und melodisch.
Die Einrichtung der Praxisräume ist schlicht und in hellen Beigetönen gehalten. Es gibt einen kleinen Empfangsbereich, ein Wartezimmer mit einem Sofa und einem Sessel und zwei Sprechzimmer, die identisch möbliert sind: eine schmale Liege, ein Schreibtisch mit PC , Stühle, metallene Schränke. Bei Dr. Felk zieren Fotografien von Bäumen und Wäldern die Wände, in dem Zimmer von Tian Tang hängen eine Schautafel mit einem Fuß, auf dem die Wirkungsbereiche der Reflexzonenmassage gekennzeichnet sind, und ein Poster, das die Meridiane des menschlichen Körpers aufzeigt. Auf dem Fensterbrett reihen sich große Kristalle in verschiedenen Farben.
»Wie lange arbeiten Sie und Dr. Felk schon zusammen?«
»Seit vier Jahren. Wir haben uns auf einem Reiki-Seminar kennengelernt.«
Oda zeigt Herrn Tang die Uhr im Plastikbeutel. Ein kurzer Blick genügt, dann nickt er: »Ja, das ist seine. Eine Omega , wenn ich mich nicht irre.«
Sie packt die Uhr weg und fragt: »Und, wie laufen die Geschäfte?«
»Recht gut. Wir bekommen immer mehr Zulauf.«
»Gibt es Angestellte?«
»Zweimal die Woche kommt eine Putzfrau. Wir hatten vor, demnächst eine Sprechstundenhilfe in Teilzeit einzustellen.«
Noch immer ist sein Gesichtsausdruck von bemerkenswerter Neutralität.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragt Oda.
»Sicher möchten Sie wissen, ob ich vom Tod meines Partners in irgendeiner Weise profitiere«, riecht Tang den Braten. »Nein, ich denke nicht. Ich werde vielleicht ein paar seiner Patienten übernehmen, aber darauf bin ich nicht angewiesen. Meine Familie ist sehr wohlhabend, ich arbeite in dieser Praxis aus Überzeugung, nicht, um Geld anzuhäufen.«
Oda überlegt, ob sie Kripobeamtin »aus Überzeugung« wäre, wenn ihr Vater sehr wohlhabend wäre. Vermutlich nicht. »Welche Leiden behandeln Sie und Dr. Felk denn vorzugsweise?«
»Das lässt sich so nicht eingrenzen, unser Spektrum ist breit. Es reicht von Schmerzen aller Art bis zu Allergien, Heuschnupfen, Neurodermitis und begleitenden Therapien bei der Krebsbehandlung. Wir haben auch eine Menge chronisch kranker Patienten, die mit der herkömmlichen Medizin nicht weitergekommen sind. Zu uns kommen Menschen mit psychischen Erkrankungen, Depressionen, Burn-out-Syndrom, Menschen mit Prüfungsängsten, Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen. Ein großer Teil unserer Bemühungen gilt der Suchtbehandlung. Alkoholsucht, Drogensucht, Nikotinsucht.« Er sieht Oda an, und zum ersten Mal lächelt er. »Ich könnte Ihnen dabei helfen, das Rauchen aufzugeben.«
»Nein danke. Wenn ich es aufgeben wollte, dann würde ich das einfach tun«, versetzt Oda.
»Sind Sie sicher?«
»Absolut.«
»Und was unternehmen
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