Totenfeuer
Ernst Felk erklärt, dass er seinen Bruder am Samstagmittag zum letzten Mal gesehen hat. Der Bestatter sei hier gewesen, man habe die Einzelheiten des Begräbnisses des Großvaters besprochen. Die Beerdigung soll am Freitagnachmittag auf dem Friedhof von Linderte stattfinden. Die kurze Rede des Hausherrn wird vier Mal von seiner Frau unterbrochen, korrigiert und ergänzt. Zwischendurch eilt sie immer wieder in die Küche. Eine Thermoskanne aus Plastik, vier Goldrandtassen, Kondensmilch und eine Kristallschale mit Würfelzucker werden nach und nach auf den großen Mahagonitisch gestellt.
»Hat Ihr Vater ein Testament hinterlassen?«, fragt Jule, die neben Fernando in einem altertümlichen Kanapee mit geschwungener Lehne versinkt, den Hausherrn. Ernst Felk sitzt in einem Ohrensessel, allerdings auf einer abgewetzten Decke, denn er kommt aus dem Stall und hat noch seine Arbeitskleidung an: ein kariertes Flanellhemd und robuste olivgrüne Hosen, deren Gürtel sich unter einem Bauchansatz verkriecht. Er ist von kleiner, kräftiger Statur, sein graubraunes Haar ist stark gelichtet, das Gesicht ist rundlich, mit geröteten Wangen und vollen Lippen. Damit ist Ernst Felk so ziemlich das genaue Gegenstück zu seiner hageren Ehefrau, und dies nicht nur optisch – er riecht nach Pferd und sie nach Kölnischwasser.
Jules Frage wird prompt von Martha Felk beantwortet: »Das Testament liegt beim Notar, bei Dr. Hübner in Springe. Mein Mann wird das Gut erben.«
»Allein? Oder hätte Roland Felk die Hälfte bekommen?«
»Nein«, entgegnet Martha entschieden, »Roland bekommt nichts. Der durfte ja seinerzeit Medizin studieren, während Ernst immer schon auf dem Gut gearbeitet hat. Das wurde im Testament so festgehalten, schon vor vielen Jahren.« Um ihre Worte zu unterstreichen, presst sie die Lippen und ihre knochigen Knie zusammen und nickt. Jule kann die innere Unruhe dieser Frau fast körperlich spüren.
»Auch Roland fand das gerecht. Nur Anna bekommt Geld für ihr Studium«, fügt Ernst Felk hinzu.
»Wie viel?«, fragt Jule.
»Damals wurden 40 000 Mark festgelegt.« Ein schöner Batzen, aber das Gut dürfte locker das Hundertfache wert sein, schätzt Jule, und forscht nach: »Warum hat Ihr Vater Ihnen das Gut eigentlich nicht bereits zu Lebzeiten überschrieben? Das hätte doch bestimmt eine Menge Erbschaftssteuer gespart.«
Treffer, versenkt!
»Was hat denn das mit dem Tod von Roland zu tun?«, will Martha Felk nun in gereiztem Tonfall wissen.
Ernst Felk wirft ihr einen raschen Blick zu, ehe er antwortet: »Solange Roswitha – das war unsere Mutter – noch lebte, wollte mein Vater das Gut behalten. Um ihre Pflege sicherzustellen. Sie ist ebenfalls ziemlich alt geworden, sie ist erst vor einem halben Jahr gestorben.«
Erneut schaltet sich Martha ein. »Aber ihr Tod war wirklich eine Erlösung für alle Beteiligten, nicht wahr, Ernst? Sie lebte schon seit über zwanzig Jahren im Pflegeheim, sie war schwer alzheimerkrank. Die letzten Jahre hat sie kaum noch auf irgendetwas reagiert, geschweige denn, jemanden erkannt. Ein großer Teil der Pachten für die Felder ging für das Pflegeheim drauf. Aber trotzdem. Wir hätten bestimmt nichts daran geändert!« Das goldene Kreuz bebt an ihrem Schildkrötenhals.
»Hat Ihr Schwiegervater denn befürchtet, dass Sie das Gut vorzeitig verkaufen könnten?«, fragt Fernando.
»Verkaufen?«, wiederholt Ernst Felk aufrichtig verblüfft. »Und was sollten wir dann bitte schön machen?«
»Ihre Rente auf einer Finca auf Mallorca genießen«, schlägt der Kommissar achselzuckend vor.
Martha lacht kurz und schrill auf. »Was soll ich denn da? Ernst liebt die Pferdezucht, der würde niemals verkaufen, und ich auch nicht. Das hier …«, sie vollführt eine umfassende Armbewegung, »… ist unser Lebenswerk.«
Die gute Stube der Felks ist eine bizarre Mischung: Die Möbel erinnern an einen mondänen Salon aus den Zwanzigern, vermutlich sind es alte Erbstücke. Davon abgesehen sieht das Zimmer aus wie ein Jagdmuseum oder ein Messestand von Pferd & Jagd . An zwei Wänden und über dem Kamin hängen Jagdtrophäen: etliche Rehgehörne und zwei Hirschgeweihe, präparierte Enten und Greifvögel äugen gläsern auf die Besucher herunter. Die Wand hinter dem Sofa gehört den Pferden: Fotos, Zeichnungen und Ölgemälde von preisgekrönten Tieren neben diversen Urkunden. Aber auch ein Museum gehört mal gelüftet, findet Jule, die es hier drin zum Ersticken findet.
»Haben Sie eigentlich
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