Totenfeuer
Er wird von seiner Mutter und einem kahlköpfigen Mann mit randloser Brille und einem dunklen Anzug empfangen. Frau Cebulla bringt die drei in ein leeres Büro am Ende des Flurs. Vor dem Aufzug steht Jule, die soeben Carsten Meier und eine verhuschte Frau, vermutlich seine Mutter, verabschiedet.
»Na, Winnetou, wie sieht’s aus?«, erkundigt sich Oda.
Jule, die die Fahrt im Dienstwagen auf einer Plastiktüte sitzend verbracht und inzwischen ihre Jeans notdürftig gesäubert hat, seufzt: »Wir lassen ihn gehen. Er sagt, er sei so betrunken gewesen, dass er eher im Koma lag als im Schlaf. Seine Mutter stützt diese Aussage. Sie meint, sie habe sich ernsthaft Sorgen gemacht, nachdem Torsten und Ole ihren Sohn zu Hause abgeliefert hatten. Sie sagte: ›Das war schon eine kleine Alkoholvergiftung, der Junge hat den ganzen Tag nur gereihert.‹ Für mich klang es glaubhaft. Carsten war ja tatsächlich auch erst am nächsten Abend wieder einigermaßen fit. Ich fürchte, den können wir vergessen. Und wie sieht es bei dir aus?«, erkundigt sich Jule. »Hast du Ole schon weichgekocht?«
»Nicht die Bohne«, knurrt Oda. »Dieses raffinierte Bürschchen schweigt wie ein Grab. Sein Anwalt ist jetzt da. Man kann nur hoffen, dass der ihn zur Vernunft bringt. Aber wenn er den genauso anlügt wie uns, dann sehe ich schwarz.«
Die beiden sind in Frau Cebullas Büro angekommen, wo sich Oda einen Becher Kaffee eingießt. »Mein neues Gift.«
»Stimmt es, dass du nicht mehr rauchst?«
»Mal sehen«, antwortet Oda vage.
»Tja, dann ist jetzt unser Chef gefragt«, meint Jule. »Bin gespannt, was der aus Torsten Gutensohn rausquetscht.«
Kaum hat sie den Satz vollendet, erscheint Völxen in der Tür. Oscar klebt ihm an den Fersen, mit den Ohren auf Halbmast bringt er Völxens Übellaunigkeit ebenso deutlich zum Ausdruck wie dieser mit Worten: »So was Stures! Sitzt da wie ein Denkmal, egal, was ich sage.«
»Hast du schon die U -Haft-Nummer gebracht?«, fragt Oda.
»Ja. Hilft nichts.«
»Bei mir auch nicht. Wir müssen uns langsam etwas anderes ausdenken, womit wir sie erschrecken können.«
»Was kann es für einen Teenager Schrecklicheres geben als kein Handy und kein Internet? Würde man meiner Tochter Wanda so etwas androhen, sie würde mich verraten, noch bevor Köpckes Hahn auch nur dazu käme, den Schnabel zu öffnen.«
»Sagt Torsten wenigstens, warum er vor uns geflohen ist?«, will Jule wissen und steckt Oscar einen von Frau Cebullas Keksen zu, den dieser innerhalb von Sekunden zu einem Berg Krümel schreddert.
»Er sei in Panik geraten. Das ist alles. Gleich wird sein Vater hier antanzen und Wirbel machen. Ist denn kein Kaffee mehr da, zum Kuckuck? Immer wenn ich komme, ist die Kanne leer!«
»Ich setze gleich welchen auf«, beschwichtigt ihn Frau Cebulla, die eben hereinkommt. »Und Kekse sind keine artgerechte Hundenahrung, Frau Wedekin!«
»Verzeihung. Ich konnte nicht ahnen, dass er so eine Sauerei damit macht. Immerhin hat Carsten Meier zugegeben, dass Torsten und Ole sich abgesprochen haben, zu behaupten, dass alle drei wach waren«, berichtet Jule. »Er war ganz froh, sagt er, dass er gestern im Lauf der Befragung zugeben durfte, dass er geschlafen hat.«
»Das war doch ihr Trick«, stöhnt Oda augenrollend. »Torsten und Ole haben nicht nur ihren Kumpel Carsten, sondern auch dich und Fernando geschickt manipuliert, indem sie zunächst so dermaßen frech behaupteten, sie wären die ganze Zeit wach gewesen, dass es wie eine Lüge klang. Ihr wart zufrieden damit, dass ihr ihnen scheinbar auf die Schliche gekommen seid, aber genau das wollten die: dass wir glauben, sie hätten die ganze Zeit geschlafen. Hätten sie das nämlich von vornherein angegeben, dann wären wir vielleicht misstrauisch geworden.«
»Schon möglich«, gibt Jule zu. »Dann hat Carsten Meier die Komödie aber auch nicht durchschaut, weil er der Einzige war, der wirklich die ganze Zeit geschlafen hat.«
»Sag ich doch.«
»Moment mal!« Jule fällt etwas ein. »Ich bin gleich wieder da.« Vom Windzug ihres eiligen Abgangs geraten die Zweige des Ficus in Bewegung. Sie stürmt den Flur hinab und verschwindet in Richard Nowotnys Büro. »Ich muss was in der Akte nachschauen.«
»Bitte. Dafür ist sie doch da«, erklärt Richard Nowotny, der gerade einen Mohnkuchen verdrückt.
Hastig blättert Jule die Protokolle der Zeugenbefragungen durch, die sie am Ostermontag mit Hauptkommissar Völxen zusammen durchgeführt hat. »Wo ist die
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