Totenfeuer
kaum noch erkennt. Ähnliches gilt für das Pferd, das noch vor wenigen Minuten frisch gestriegelt in der Einfahrt gestanden hat. Frau Lammers wird nicht begeistert sein, befürchtet Jule.
Rechts neben dem Weg taucht eine Senke auf, die mit Gras bewachsen ist. Torsten sieht offenbar ein, dass er auf dem matschigen Weg nicht schnell genug vorankommt, und biegt auf die Stoppelweide ein. Unterhalb der Senke verläuft ein asphaltierter Weg, offenbar das Ziel des Flüchtenden. Der jedoch hat die Beschaffenheit der Weide unterschätzt. Sein Moped hat schwer mit den Unebenheiten zu kämpfen, im Slalom geht es zwischen den Maulwurfshügeln hindurch, immer wieder muss er sich mit den Beinen abstützen.
Für das Pferd hingegen ist die Weide ein akzeptabler Untergrund. Die Hufe greifen weit aus, und würde Jule nicht gerade einen Verdächtigen verfolgen, dann würde sie den Ritt sogar genießen. Die Stute überholt das Moped in einem weiten Bogen, und Jule bringt das Pferd zwischen dem Weg und dem Verfolgten zum Stehen. Doch Torsten hat nicht die Absicht, klein beizugeben. Er ändert die Richtung und versucht, links von ihr die Asphaltpiste zu erreichen. Jule durchschaut den simplen Plan und schneidet ihm den Weg ab.
»Gib’s auf!«, ruft sie ihm zu.
Torsten hält an. Hat er begriffen, dass er keine Chance hat? Noch nicht. Er wendet auf der Stelle und will den Berg wieder hinauf. Er gibt viel zu viel Gas, Gras und Erde spritzen in die Höhe, die Reifen fressen sich tief in den Boden. Als sie endlich greifen, steht Jule mit dem Pferd längst vor ihm wie der Igel vor dem Hasen. Nun wartet sie keine weiteren Manöver des Jungen ab. Sie springt aus dem Sattel, stellt sich ihm in den Weg und richtet ihre Waffe auf ihn. »Absteigen! Sofort! Oder ich schieße.«
Doch Torsten gibt Gas. Jule reicht es jetzt endgültig. Der Knall aus ihrer Waffe hallt von den Hängen wider. Torsten würgt vor Schreck den Motor ab, das Moped fällt zur Seite, er springt ab. Der Vorderreifen, der sich noch immer in der Luft dreht, hängt in Fetzen. Das Pferd hat, bis auf einen kleinen Sprung zur Seite, gelassen auf den Schuss reagiert. Nicht so Torsten. Mit zitternden Beinen steht er da. »Sie … Sie haben auf mein Moped geschossen«, stellt er fassungslos fest.
»Hab ich doch gesagt«, antwortet Jule. »Und ich tue es wieder, wenn du nicht spurst. Auf den Boden mit dir, Beine auseinander, Hände an den Hinterkopf.«
Eingeschüchtert gehorcht der Junge und legt sich ins feuchte Gras. Jule will gerade ihr Handy aus der Jackentasche holen, als sie ein Motorengeräusch hört. Ein schwarzer Toyota Land Cruiser donnert über die Wiese, sie kann Fernando am Steuer bis hierher grinsen sehen. Offenbar findet er gerade Gefallen am Landleben. Er hält an, steigt aus – »Geil, so ein Geländewagen!« – und deutet auf den Jungen, der noch immer am Boden liegt. »Blutiger Anfänger. Mich hättest du nicht gekriegt.«
»Schon klar«, antwortet Jule, die noch immer ihre Waffe in der rechten Hand hält und in der linken die Zügel. »Du kannst ihn mitnehmen. Ich reite zurück.« Sie steckt ihre Waffe ein.
»Du reitest am besten gleich bis in die PD «, meint Fernando. »So dreckig kommst du mir nicht in den Dienstwagen.«
»Nun mal im Ernst, Ole. Zuerst wollt ihr alle die ganze Nacht wach geblieben sein, dann habt ihr plötzlich alle tief und fest geschlafen – was stimmt denn nun?«
Der Junge mit dem ernsthaften Gesicht und dem zerzausten Haar reagiert auf Odas Frage, indem er seine abgekauten Fingernägel fixiert.
»Das stinkt doch zum Himmel! Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, mit der Wahrheit herauszurücken?«
Schweigen.
»Ich unterstelle dir ja nicht, dass du etwas getan hast, aber du hast mit Sicherheit etwas beobachtet.«
Keine Antwort.
»Ole, du begreifst schon, dass eine Aussage in einem Mordfall nichts ist, was man aussitzen kann, nicht wahr? Du kannst dir jetzt nur einen Gefallen tun, indem du uns hilfst. Einen Mörder zu decken ist keine Frage der Ehre, sondern ein Straftatbestand. Und einem Mörder zu helfen, eine Leiche zu verstecken, ist Beihilfe zum Mord, dafür wanderst du in den Knast, besonders dann, wenn du nicht geständig bist«, versucht es Oda – vergeblich. Ole Lammers hält sich an die Anweisung seiner Mutter und sagt kein Wort.
»Ole, es gibt zwei Möglichkeiten: Ich befrage dich jetzt hier als Zeugen, dann kannst du deine Aussage machen und kannst danach sofort gehen. Aber du musst eine Aussage machen, du hast als
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