Totenfluss: Thriller (German Edition)
das Krankenhaus gebeten, nicht anzurufen. Sie würde kommen wollen, und es war gefährlich auf den Straßen. Er hätte Henry angerufen, wenn er gekonnt hätte. Henry wäre gekommen und hätte ihn geschimpft, weil er ohne Plan in den Fluss gesprungen war. Dann hätte er seine Cowboystiefel auf Archies Bett gelegt und eine Kochsendung im Fernsehen eingeschaltet.
Die Tür zu Archies Zimmer war offen, und so vertrieb er sich die Zeit damit, den Geräuschen des Krankenhauses zu lauschen. Eine Frau weinte leise im Zimmer nebenan. Ein zerbrechlicher, weißhaariger Mann, der mit einem blutigen Hemd um den Kopf eingetroffen war, wurde genäht. Pfleger und Schwestern scherzten am Empfangstresen.
Ein Krankenhaus besitzt seinen eigenen Takt. Archie war erstaunt, wie die Erinnerung zurückflutete. Der Klang von Clogs auf Linoleum, Vorhangringe, die auf Metallstangen glitten, Stimmen aus einem Fernseher irgendwo. Gestalten bewegten sich in derselben Geschwindigkeit auf dem Flur vorbei. Es war ein geschlossenes Ökosystem. Für alles gab es ein beschriftetes Fach, jede Handlung wurde in eine Tabelle eingetragen, das Leben bewegte sich in berechenbarem Tempo.
Und dann auf einmal nicht mehr.
Archie konnte die Veränderung fühlen. Der Pulsschlag des Gebäudes beschleunigte sich. Der Tonfall der Gespräche vor seiner Tür wurde düsterer. Das Hintergrundgeräusch unnötiger Aktivitäten hörte auf.
Ein Pfleger rannte mit einem Notfallwagen an Archies Tür vorbei.
Der Junge, dachte Archie. Er hatte noch immer keine Ahnung, wie der Junge im Fluss gelandet war, wie lange er sich im Wasser befunden hatte, oder wie er es überhaupt fertiggebracht hatte, nicht unterzugehen. Er hatte kaum noch reagiert, als Archie ihn erreicht hatte. Sobald Archie die Arme unter seine Achselhöhlen geschoben hatte, war er erschlafft. Hätte er sich in irgendeiner Weise gegen Archie gewehrt, wären sie wahrscheinlich beide ertrunken. Archie hatte diesem Jungen das Leben gerettet, sicher, aber der Junge hatte auch Archie gerettet.
Sie durften ihn nicht sterben lassen.
Archie schob die Gummidecken von sich, setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Er war in weitere Decken gepackt, die aus weißem Flanell waren, und er brauchte eine Minute, bis er sich aus ihnen geschält hatte. Dann stieß er sich vom Bett und patschte in Nachthemd und Socken auf den Flur hinaus.
»Was ist los?«, fragte er.
Eine Schwester kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. »Sie müssen wieder in Ihr Zimmer gehen«, sagte sie. Hydrauliktüren öffneten sich zischend, und sowohl Archie als auch die Schwester sahen nach rechts, wo eine Rolltrage eilig hereingeschoben wurde.
Nicht der Junge.
Dem Jungen ging es gut.
Das hier war jemand anderer.
Jemand, der sehr schwer verletzt war.
Archie sah aus etwa sieben Meter Abstand, dass die Person eine Sauerstoffmaske aufhatte und dass jemand einen Beutel drückte. Ein Sanitäter lief neben der Trage her und führte Herzmassage durch. Sie kamen in Archies Richtung.
Die Person auf der Trage atmete nicht.
Archie stand reglos da.
Zwei Ärzte und zwei Schwestern waren den Sanitätern entgegengeeilt und beteiligten sich jetzt an den Wiederbelebungsversuchen.
Archie konnte einen großen, rasierten Schädel erkennen, als die Rolltrage näher kam.
Er streckte die Hand nach hinten, fand den Türstock, durch den er eben gekommen war, und hielt sich daran fest.
Sie schoben Henry direkt an ihm vorbei.
Das medizinische Personal, das an seiner Rettung arbeitete, verständigte sich in knappem, drängendem Krankenhaus-Jargon, aber Archie fing einzelne Worte auf, die er kannte. Atemstillstand. Intubieren.
Archie stolperte hinter ihnen her.
Sie bewegten sich schnell – schon waren sie zwei Meter entfernt, dann vier. Archie konnte nicht mehr verstehen, was sie sagten.
»Sir«, hörte er eine Stimme. »Bitte bleiben Sie zurück.«
»Ich muss seine Hand sehen«, sagte Archie. Eine Schwester trat ihm in den Weg, während sie Henry in dem Eckzimmer genau vor ihm abstellten. Archie versuchte, um sie herumzukommen, aber irgendwer zog ihn von hinten sanft fort.
»Bitte«, sagte er und bemühte sich, nicht wie ein Verrückter zu klingen. »Er ist Detective. Ich bin sein Partner. Er wurde möglicherweise vergiftet. Ich muss nachsehen, ob ein brauner Fleck auf seiner Hand ist.«
»Er ist da«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Archie drehte sich um und sah Susan Ward vor sich. »Der Fleck ist da«, sagte sie. »In seiner linken Handfläche.
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