Totenfluss: Thriller (German Edition)
einer Traube zusammengespült worden waren, das Wasser füllte das Erdgeschoss. Retter bildeten eine Kette und streckten die Hände aus, um Leute zu bergen.
Sie hatte die Bilder zuerst als Teenager gesehen, deren Vater im Krankenhaus starb, und die eine Menge Zeit totzuschlagen hatte. Damals hatte sie zum ersten Mal von Vanport gehört. Man konnte in Portland aufwachsen und den Namen nie hören. Er war ausgelöscht worden. Ohne eine Spur. Selbst ihre Lehrer wussten nicht viel. Die Opferzahl war unklar. Nach offizieller Zählung waren es fünfzehn. Manche sprachen von Tausenden. Man munkelte von einer Verschwörung, um die wahren Zahlen zu vertuschen.
Vielleicht war sie in ihrer Kolumne zu weit gegangen und hatte nach Zusammenhängen gesucht, wo keine waren. Ralph war wahrscheinlich nicht in Vanport gestorben. Aber andere waren gestorben.
Susan hatte diese Bilder in dem Jahr, in dem sie vierzehn war, ein ums andere Mal besucht.
Es war ein Zeitvertreib, wenn sie nicht Zigaretten im Krebsgarten für Kinder schnorrte.
Eine Lautsprecherdurchsage riss Susan aus ihren Gedanken.
Notaufnahme. Code Blue.
Henry.
Susan rannte zum Aufzug.
14
Notfallwägelchen sahen aus der Nähe betrachtet wie Werkzeugkisten für Autobastler aus. Wenn man die IV-Stange und die grüne Sauerstoffflasche wegnahm, blieb genau das übrig – ein bulliger, hüfthoher Metallkasten mit ordentlich beschrifteten Schubladen. Nur waren diese Schubladen nicht mit GABELSCHLÜSSEL oder SECHSKANTSCHRAUBEN beschriftet, sondern mit ATMUNG und KREISLAUF .
Susan weinte nicht. Es überraschte sie. Sie würde wahrscheinlich später weinen. Aber im Augenblick empfand sie nur furchtbare Angst.
Die Tür zu Henrys Zimmer stand weit offen, aber Claire sah nicht hinein. Sie lehnte draußen im Flur an der Wand und hatte beide Hände vor dem Mund. Warum taten Leute das?, überlegte Susan. Versuchten sie ihre Gefühle drinnen oder die Welt draußen zu halten?
Archie war ebenfalls im Flur, neben Claire, eine Hand auf ihrem Oberarm. Er stand einfach nur da in seinem blauweißen Bademantel und weißen Nachthemd, seinen nackten Waden und den Krankenhauspantoffeln. Susan beneidete sie um ihre Nähe. Sie sahen aus, als würden sie einander stützen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Claire. Henry. Archie. Sie kannten sich so lange, hatten so vieles zusammen durchgemacht. Susan fühlte sich wie ein Eindringling, also sollte sie vielleicht besser gehen. Wer war sie überhaupt für diese Leute? Sie wusste immer noch nicht genau, was Archie von ihr hielt.
Aber während es Claire anscheinend nicht über sich brachte, hinzusehen, brachte es Susan nicht fertig, wegzusehen.
Es gab Dinge, die Susan lieber nicht gewusst hätte. Einzelheiten, die sie im Lauf der Jahre bei ihren Recherchen aufgeschnappt hatte und die sie immer noch verfolgten. Die Bestandteile von Popcorn-Butter im Kino, zum Beispiel. Die Menge an Fäkalpartikeln, die sich durchschnittlich in den Grifflöchern von Bowlingkugeln finden. Und wie lange eine Bettwanze überleben konnte, ehe sie wieder Nahrung brauchte – ein Jahr.
Im Augenblick wünschte Susan, sie hätte den Artikel über Defibrillation nicht geschrieben. Denn sie wusste, dass ein Patient selten überlebte, wenn er mehr als drei Elektroschocks brauchte.
Und Henry hatte bereits zwei gehabt.
Sie sah wieder zu Archie und Claire hinüber. Sie hatten die Köpfe nah beisammen und gingen beide einen Moment in sich, wie es schien. Beteten sie? Susan hatte Archie nie nach einer Religion gefragt. Falls er jemals einem Glauben anhing, hatte er ihn wahrscheinlich damals in dem Keller bei Gretchen Lowell aufgegeben.
Susan wusste nicht, wie man betet. Sie konnte sich an kein einziges Gebet erinnern. Sie überlegte, ob es zählen würde, wenn sie eins auf ihrem Smartphone googelte. Wahrscheinlich nicht. Sie hätte diesen Theologiekurs im College belegen sollen. Ein großer Teil ihrer religiösen Bildung stammte daher, dass sie in einer Highschool-Produktion von Jesus Christ Superstar die Rolle der Maria Magdalena gespielt hatte. Das kam dabei heraus, wenn man unter Hippies aufwuchs.
Als ihr Vater gestorben war, hatte ihre Mutter aus dem Tibetischen Totenbuch vorgelesen.
Erinnert euch an das klare Licht, das reine, klare, weiße Licht, aus dem alles im Universum kommt, zu dem alles im Universum zurückkehrt. Das ursprüngliche Wesen eures eigenen Geistes. Der natürliche Zustand des nicht manifesten Universums.
Susan wusste bis heute nicht, was es
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