Totenfluss: Thriller (German Edition)
musste mindestens eine halbe Meile von der Stelle entfernt in den Fluss gefallen sein, wo man Henry gefunden hatte. Tausende von Menschen waren zwischen ihnen gewesen. Aber Gretchen hatte Archie gelehrt, nicht an Zufälle zu glauben, und er fragte sich, ob der Angriff auf Henry und der Junge im Fluss irgendwie zusammenhingen. Hatte Henry etwas gesehen? Hatte er zu helfen versucht?
Archie beugte sich vor und legte eine Hand auf Henrys Arm. Er war kühler, als er sein sollte, wie etwas, das nicht ganz am Leben war. Henrys Augen waren geschlossen, und ein leichter Schweißfilm stand auf seiner Stirn. Eine Ader lief im Zickzack über seine Schläfe.
»Behalt hier alles im Auge für mich«, sagte Archie. Seine Stimme klang rau und laut in der Stille.
Er ging aus dem Raum und wäre beinahe mit Susan zusammengestoßen, die eine Unmenge Tüten mit Salzstangen in den Händen hatte und einen Turm aus Orangensaftpackungen zwischen Unterarm und Kinn balancierte.
»Ich hab was zu essen«, sagte sie. Ihr himbeerfarbenes Haar sah besonders wild aus, metallisch vom Regen und der Krankenhausbeleuchtung. Sie schien zu sehen, dass er es bemerkte, und blies eine Strähne fort, die über ein Auge gefallen war. Die Strähne flatterte auf und senkte sich dann auf exakt dieselbe Stelle wie zuvor. Ihre gelbe Regenjacke hatte Susan ausgezogen und sich um die Taille gebunden.
Eine Schwester hastete hinter einem Schreibtisch hervor. Ihre Uniform war rosa und gefüttert, mit Cargotaschen an der Hose. Das blonde Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Archie dachte im ersten Moment, sie wolle ihn rüffeln, weil er die Notaufnahme verlassen hatte, aber sie blickte zornig auf Susans Armvoll Snacks. »Sie können das nicht einfach alles nehmen«, sagte sie.
Susan drehte sich einen halben Schritt weg, um ihre Beute abzuschirmen. »Es war in nicht verschlossenen Schränken.«
Archie trat zwischen die beiden. »Ich muss mit dem Jungen sprechen, mit dem ich gekommen bin«, sagte er zu der Schwester. Er versuchte, möglichst viel Autorität in seine Stimme zu legen, wenngleich der Trainingsanzug wahrscheinlich gegen ihn arbeitete. Das Gummiband blieb nur mit Mühe über seiner Hüfte.
Die Schwester zog an ihrem Pferdeschwanz. »Er schläft.«
»Es handelt sich um eine polizeiliche Angelegenheit«, sagte Archie ein wenig nachdrücklicher.
Sie presste die Lippen zusammen. Sie hatte die verräterischen feinen Falten einer Raucherin um den Mund. »Ich muss erst bei meinem Vorgesetzten nachfragen«, sagte sie und eilte davon. Ihre weißen Turnschuhe machten kaum ein Geräusch auf dem Linoleum.
Archie hielt seine Kleidertüte umklammert und wartete. Wenn sie ihn nicht mit dem Jungen reden ließen, konnte er nicht viel dagegen tun. Er warf einen Blick zurück zu Henrys Zimmer, aber er sah von hier nur seine Füße. Zwei unförmige Erhebungen unter einer braunen Decke. Archie glaubte allerdings immer noch, den Apparat atmen zu hören: ein, aus …
Susan räusperte sich.
Archie sah zu ihr hinüber. Sie balancierte immer noch diesen lächerlichen Saftturm. Das Haar hing ihr immer noch ins Gesicht.
»Zimmer elf«, flüsterte sie.
Er brauchte eine Sekunde.
Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Schwesternstation, und Archie folgte ihrem Blick, bis er die riesige Tafel an der Wand bemerkte. Darauf waren die Namen und Zimmernummern aller Patienten auf der Station eingetragen. UNBEKANNT, UNTERKÜHLUNG, ZIMMER 11.
Der Junge wurde immer noch unter »unbekannt« geführt. Seit seiner Einlieferung waren zwei Stunden vergangen. Es musste längst in allen Nachrichten gekommen sein. Aber wenn sie keinen Namen hatten, hieß das, niemand hatte Anspruch auf den Jungen erhoben.
Wie kann ein Kind während einer Überschwemmung verschwinden, und niemand bemerkt es?
Henry war in Zimmer drei.
Die Intensivstation war hufeisenförmig angelegt. Sollte wohl Glück bringen, hätte Archie gescherzt, wenn ihm leichter ums Herz gewesen wäre.
Er marschierte los und zählte die kleinen Zimmer der Reihe nach ab. Susan blieb ihm samt ihrer Snacks auf den Fersen. Es gab keinen Flur, nur andersfarbige Linoleumfliesen auf dem Boden, wo ein Flur hätte sein können. Archie sah zu jedem Bett, an dem sie vorbeikamen, und fand nur schlaffe, bewusstlose Gesichter. Keine Luftballons. Keine Blumen. Ohne jede Belebung sahen selbst die Leute alle gleich aus.
»Das nächste«, sagte Susan.
Zimmer elf.
Drei Wände. Ein Waschbecken. Ein Schränkchen mit
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