Totenfluss: Thriller (German Edition)
stellte sich vor, wie seine Stiefel irgendwo draußen im Fluss in dem wilden Durcheinander schwammen, das die Flut zusammengeführt hatte: leere Bierdosen, Baumstämme, Feuerzeuge, Kondome, Plastikverschlüsse, Wasserflaschen und der eine oder andere verloren gegangene Croc. Archies Lederschuhe hatten Schnürsenkel bis zu den Knöcheln. Clarks. Debbie hatte ihm einmal erklärt, sie seien irgendwann um 1980 aus der Mode gekommen, aber Archie hatte eine Schwäche für sie.
Um die gesamte Japanese American Plaza herum war Absperrband gezogen. Den Strahlen der Taschenlampen nach waren mindestens fünfzig Polizeibeamte dort unten zugange. Manche von ihnen kannten Henry. Die meisten wahrscheinlich nicht. Aber so war das eben. Wenn einer der eigenen Leute verletzt wurde, war man zur Stelle. Egal, ob es mitten in der Nacht war und der Gouverneur den Notstand ausgerufen hatte. Fünfzig Polizisten. Zu viele, dachte Archie.
Sie alle kannten Archie. Er versuchte, nicht daran zu denken. Gretchen Lowell hatte ihm mehr als seinen Teil Verrufenheit eingebracht. In den Reihen des Portland Police Departments war er ein Gespenst oder ein Prophet. Diejenigen, die ihn für ein Phantom aus dem Reich der Toten hielten, vermieden Augenkontakt. Diejenigen, die ihn für eine Art Super-Cop hielten, zum Bersten voll mit Serienmörder-Know-how, sie ließen ihm keine Ruhe. Sie dachten, er wäre schlau, mutig und ein Glückskind.
Er war nichts davon.
Jedenfalls kein Glückskind. Das gewiss nicht. Alle Menschen in seiner Umgebung litten auf die eine oder andere Weise.
Das musste Archie nun gutmachen, er musste einen Weg finden, Henry zu retten. Er würde es nicht schaffen, wenn er allein hier im Regen stand.
Detective Jeff Heil kam auf ihn zu. Archie erkannte ihn an seinem Gang. Der Himmel war eine dicke Glasur aus Wolken, die den Mond und die Sterne verdeckte und ihr eigenes, unnatürliches Leuchten auszustrahlen schien. Es reichte nicht, um etwas zu sehen. Und selbst die Gebäude, die den Fluss säumten, waren dunkel – Lichter, die normalerweise die Nacht hindurch brannten, waren abgeschaltet worden, um Kurzschlüsse zu vermeiden.
Heil hob den Strahl seiner Lampe und beleuchtete sein längliches Gesicht. Sein dunkelblondes Haar war so nass, dass es bemalt aussah, und die Schatten von unten ließen seine gemeißelten Wangenknochen noch hohler als sonst aussehen. Heil war vor anderthalb Jahren zu Archies Task Force gestoßen, als Archie von seinem zweijährigen Post-Gretchen-Genesungsurlaub zurückgekehrt war. Damals hatte er den ganzen Tag Schmerztabletten geschluckt. Heil musste es gewusst haben. Doch soweit Archie bekannt war, hatte er nie etwas gesagt.
»Nun?«, sagte Archie und wischte sich Regenwasser unter den Augen fort.
Heil ließ die Taschenlampe sinken. »Wir haben alles abgesucht«, sagte er. »Da war nichts. Vogeldreck. Schlamm.« Er hielt etwas in die Höhe. »Und das hier.«
Archie schwenkte seine eigene Taschenlampe, um zu sehen, was in Heils Beweismittelbeutel war.
Er war leer.
»Ist es ein unsichtbarer Hinweis?«, fragte Archie.
»Es ist ein Plastikbeutel«, sagte Heil. Er hielt inne. »Ich meine innerhalb des Plastikbeutels.«
Heil richtete sein Licht ebenfalls auf den Beutel und schüttelte ihn ein wenig.
Archie nahm den Beutel und sah genauer hin. Er enthielt etwas aus Plastik, fast genauso groß wie der Beweismittelbeutel selbst. Wie es aussah, handelte es sich um einen verschließbaren Gefrierbeutel.
Er sah sauber aus. Keine Drogenrückstände. Keine Krümel von einem Sandwich. »Könnte ein Hundebesitzer fallen lassen haben«, sagte Archie.
Die Bewohner Portlands sammelten eifrig den Kot ihrer Hunde auf. Vorzugsweise in biologisch abbaubaren Beuteln, die ursprünglich zur Müllverwertung hergestellt worden waren, oder in den blauen Plastikhüllen, in denen die New York Times ausgeliefert wurde. Irgendwo musste es eine Mülldeponie geben, die vor verknoteten, scheißegefüllten Zeitungshüllen überquoll.
»Natürlich«, sagte Heil. »Aber ich wollte Ihnen etwas zeigen, und das ist alles, was wir haben.«
Ein leerer Plastikbeutel. Wenn das eine Metapher war, dann waren sie im Arsch.
»Wo ist der Kerl, der Henrys Handy hatte?«, fragte Archie.
»Unter der Brücke.«
Heil führte Archie die Promenade entlang, sie mussten sich zwischen den Freiwilligen und Nationalgardisten hindurchschlängeln, die in ihrem Rennen gegen die Zeit immer noch Sandsäcke schleppten. Archie war dankbar für die vielen
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