Totenfluss: Thriller (German Edition)
ist harmlos«, sagte Riley ruhig. »Kann ich ihn jetzt ins Warme schaffen?«
Otter sah die Polizisten nicht einmal an, seine Augen waren auf einen Punkt am Boden fixiert. Wer wusste, was in seinem verwirrten Gehirn vor sich ging? Mit den richtigen Medikamenten würde er vielleicht eine ganz andere Geschichte erzählen, könnte vielleicht genau beschreiben, was mit Henry geschehen war. Aber sie durften ihn nicht zwangsbehandeln, nicht ohne richterlichen Beschluss, und sie konnten nicht beweisen, dass er etwas Unrechtes getan hatte. Es gab kein Gesetz, das das Aufheben eines fallen gelassenen Handys verbot. Wenn er es nicht aufgehoben hätte, hätten sie Henry niemals rechtzeitig gefunden. Er wäre inzwischen tot.
»Wer ist Nick?«, fragte Archie den Mann.
Otter scharrte mit den Füßen. »Einer von den Flussleuten«, murmelte er. Sein Blick ging kurz auf den Willamette hinaus, zur Eastbank Esplanade am anderen Ufer hinüber, einem beliebten Campingplatz für Gestrandete.
»Kennen Sie diesen Nick?«, fragte Archie Mary Riley.
»Er ist so eine Art Anführer von ihnen«, sagte Riley. »Lebt unter der Hawthorne Bridge. Aber ich habe ihn die ganze Woche nicht gesehen.«
Die Obdachlosen, die am Fluss lebten, waren ein eigener Stamm. Die Stadt hatte es längst aufgegeben, etwas gegen sie zu unternehmen. Solange sie kein Heroin an Kinderwagen schiebende Mütter verkauften oder in der Öffentlichkeit tranken, wurden sie in Ruhe gelassen. Die meisten von ihnen hielten sich am Ostufer auf, wo die Esplanade größtenteils nicht befahren werden durfte, und wo es jede Menge Verstecke gab.
Wenn Otter ihnen nichts darüber erzählen konnte, was mit Henry passiert war, konnte es dieser Nick vielleicht. Es war ein Anfang.
»Haben Sie Platz für ihn?«, fragte Archie Riley und nickte in Richtung Otter. »Falls ich ihn später finden muss?«
»Ich werde Platz schaffen«, sagte Riley.
Archie warf einen Blick zu dem ganzen Getriebe hinter ihnen, zu den Lkws, der Ausrüstung und den Leuten. Angst und Erschöpfung waren mit Händen zu greifen. All diese Arbeit, und sie waren immer noch den Launen des Flusses ausgeliefert.
Mary Riley gab ihm ihre Karte. »Ich nehme ihn jetzt mit, und dann schlafe ich ein bisschen. Sie können mich morgen früh anrufen, wenn sie ihn weiter aufregen wollen.«
Archie steckte gerade die Karte ein, als er seinen Namen hörte. Er sah an den Mienen seiner Detectives, dass es wichtig war. Als er sich umdrehte, entdeckte er Polizeichef Eaton vor dem Kommandofahrzeug stehen und ihm zuwinken. Lorenzo Robbins stand neben Eaton und überragte ihn um gut dreißig Zentimeter.
Es gab gute Neuigkeiten, und es gab schlechte, und Archie hatte meist mit Letzteren zu tun. Er erkannte es von Weitem – ein widerstrebender Zug um den Mund, ein Hängenlassen der Schultern – und er erkannte sofort, dass Lorenzo Robbins schlechte Nachrichten hatte und der Polizeichef sie bisher nicht kannte.
Archie senkte den Kopf und schlenderte zu ihnen hinüber.
Chief Eaton war in voller Regenmontur, mit schicker Mütze und allem. Aber er machte Punkte gut, weil er nicht im Bett war. »Sie wollten ihn, hier ist er«, sagte er zu Robbins. »Jetzt erzählen Sie uns, was Sie haben.«
Robbins holte tief Luft und sah Archie an. Irgendwo unter der Brücke piepte der Warnton eines zurücksetzenden Lkws. »Wir haben das Gift identifiziert«, sagte Robbins. »Aber es wird Ihnen nicht gefallen.«
17
Er sah das Bild des Jungen in den Nachrichten. Er lebte. Wurde gesucht, damit man ihn befragen konnte. Der Detective von der Plaza befand sich in kritischem Zustand. Vergiftet, hieß es.
Die andern drei wurden immer noch als Flutopfer geführt. Flutbedingte Tragödien. Dergleichen geschah. Achtzehn Menschen waren seit Beginn der Überschwemmungen im Bundesstaat ums Leben gekommen. Er hatte von ihnen allen gelesen. Erdrutsche. Bootsunfälle. Autos, die von ländlichen Straßen gespült wurden. Der Herald schien immer atemlose Berichte von Zeugen oder Überlebenden auszugraben. Er hatte einen Bericht über einen älteren Mann gesehen, der vom Wasser mitgerissen wurde, als er versuchte, seine Frau aus dem Bach zu retten, der angeschwollen war und ihre Farm überspült hatte. Die Nachbarn hatten gesehen, wie er hinter ihr hineingesprungen war. Hörten, wie sie nach ihm rief. Dann war sie fort gewesen. Die Nachbarn sagten, sie hätten seinen Kopf noch eine Weile über Wasser gesehen, er starrte auf die Stelle, wo sie zuletzt gewesen war.
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