Totenfluss: Thriller (German Edition)
Schlüssel in ihre Handtasche zu werfen. Sie ging es in Gedanken immer wieder durch. War sie allein gewesen, in einer Menschenmenge? Bei allen anderen war es in der Nähe des Flusses passiert. Dort musste es wohl geschehen sein. Sie, Archie und Claire hatten sich bei der Suche nach Henry inmitten so vieler Menschen bewegt. All die namenlosen Regenjacken. Sie schauderte. Hatte er vorgehabt, sie zu vergiften und es sich dann anders überlegt? Oder hatte sie sich in letzter Sekunde abgewandt?
»Tut mir leid, wenn ich ein wenig barsch war«, sagte Archie vom Eingang her.
Susan hielt ihr Handy in die Höhe. »Ich habe ein bisschen Scrabble gespielt«, sagte sie.
»Aber sicher doch«, sagte er. Er stakste in den Raum und nahm in einem der Sessel gegenüber von ihr Platz. Dann faltete er die Hände im Schoß und sah sie ruhig an. Susan wusste, was kommen würde. »Diese Sache mit dem Jungen – darüber darf kein Wort laut werden«, sagte er. »Wir wollen nicht, dass es die Eltern erfahren, ehe wir uns sicher sind.«
Darüber hatte sich Susan bereits ihre Gedanken gemacht. »Sie könnten den Schlüssel, den er unter dem Bett zurückgelassen hat, nach Fingerabdrücken untersuchen. Man hat seine Abdrücke nach seinem Verschwinden bestimmt genommen, oder?«
Er rührte sich nicht. »Ich weiß, wie ich meine Arbeit zu tun habe, Susan.«
»Natürlich«, sagte sie. Er hatte ebenfalls daran gedacht.
Beide schwiegen, es kam Susan zu lange vor.
»Möchten Sie Ihren Stuhl haben?«, fragte sie schließlich.
»Es ist ein Blauringkrake«, sagte er.
Sie war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. »Wie bitte?«
»Der toxikologische Bericht ist heute früh gekommen«, sagte Archie. »Es ist ein kleiner Kopffüßer. Absolut tödlich. Sein Biss verursacht Atemlähmung. Es gibt kein Gegengift. Die Ärzte meinen, wenn Henry vierundzwanzig Stunden lang durchhält, wird er wieder gesund. Sie können es auf Ihrem iPhone nachschauen.«
Alles, was Susan herausbrachte, war: »Sie haben mich im Krankenhaus angelogen?«
Er seufzte und wandte den Blick ab. »Wir wollten nicht, dass es an die Öffentlichkeit kommt.«
Sie erinnerte sich an die Flecken auf den Handflächen, an seine Besorgnis, als er ihre Hände inspiziert hatte. »Die Male in den Händen«, sagte sie.
»Ja.«
»Dann läuft da also jemand herum, der … der …« Ihr fielen die passenden Worte nicht ein.
»Einen Oktopus benutzt, um Menschen zu töten«, sagte Archie.
»Einen Blauringkraken.«
»Ja.«
Sie sah ihm forschend ins Gesicht. »Ist das ein Witz?«
»Nein.«
»Warum erzählen Sie es mir?«
Er spreizte die Finger. »Sie können die Story haben.«
»Sie sagten, Sie wollen nicht, dass es öffentlich wird.«
»Erst nicht«, antwortete er. »Jetzt schon.«
Es war wegen des Jungen. Archies Vorgesetzte wollten nicht, dass die Kraken-Geschichte publik wurde. Die Leute würden durchdrehen. Es war Hochwasser in der Stadt, sie hatten genug um die Ohren. Aber Archie hatte entschieden, dass es den Versuch wert war, weil es ihre Chancen erhöhte, den Kerl zu schnappen und das Kind zu retten.
»Ich bin keine Journalistin mehr«, sagte Susan. »Ich wurde gefeuert.«
»Sie sind freiberufliche Journalistin.«
Henry. Archie hatte gesagt, es gab kein Gegengift.
»Vierundzwanzig Stunden? Wie spät ist es?«
Archie musste nicht auf seine Armbanduhr schauen. »Fast Mittag. Noch sechs Stunden, ungefähr.«
Susan drehte sich langsam in ihrem Sessel. »Dieser Kerl entführt ein Kind und behält es anderthalb Jahre lang. Dann tötet er drei Menschen mithilfe eines giftigen Kraken und bringt einen vierten ins Krankenhaus, und er hinterlässt bei allen einen Schlüssel.«
»Die Schlüssel sind seine Signatur. Der Krake ist seine Waffe. Wie der Junge ins Bild passt, weiß ich nicht.«
»Warum hat er mir einen Schlüssel gegeben? Wäre ich fast ein Opfer geworden?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Wie viel Zeit habe ich? Für eine Exklusiv-Geschichte?«
»Zwei Stunden, dann gebe ich eine Pressemitteilung heraus.«
Ihr Handy läutete. Sie kannte den Klingelton. »Number of the Beast«. Iron Maiden.
»Es ist Ian«, sagte sie.
»Sie können das Gespräch entgegennehmen.«
Sie ließ es auf Anrufbeantworter gehen. »Ich rufe ihn zurück«, sagte sie. Ein Serienmörder mit einem Oktopus? Diese Story brachte sie überall unter. Aber ihr war klar, wenn sie es tat, war jede Chance dahin, dass Ian sie noch einmal einstellte. Sie würde sich als Freiberuflerin durchschlagen
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