Totenfluss: Thriller (German Edition)
der Verstärkung, die ihnen Chief Eaton geschickt hatte. Aber sie hielt ein Blatt Papier in jeder Hand und wedelte damit, als würde sie Polaroids trocknen.
»Ja?«, sagte er.
»Ich glaube, ich habe etwas gefunden«, sagte sie und kam herein. »Ich bin die Vermisstenberichte durchgegangen, wie Sie mich gebeten hatten. Es ist ein anderer Bundesstaat, deshalb hat es eine Weile gedauert.« Sie kam an den Tisch und legte das grobkörnige Überwachungsfoto auf den Tisch, auf dem der Junge das Krankenhaus verlässt. Dann legte sie ein anderes Bild aus einer Vermisstenmeldung daneben – unverkennbar ein Schulfoto.
Archie sah von einem Bild zum anderen. Kopfform, Gesichtssymmetrie, Haarfarbe – es schien derselbe Junge zu sein.
»Sein Name ist Patrick Lifton«, fuhr die Polizistin fort. »Neun Jahre alt. Er hat sein Elternhaus in Aberdeen, Washington, verlassen, um zu einem Freund drei Straßen weiter zu gehen, und kam nie dort an.« Sie zeigte auf das Datum am oberen Rand der Seite, das Datum, an dem der Junge von zu Hause weggegangen und dann als vermisst gemeldet worden war.
Es war eineinhalb Jahre her.
Der Junge war anderthalb Jahre lang verschwunden gewesen, und Archie hatte ihn in den Armen gehalten.
Und ihn wieder gehen lassen.
»Gehen Sie raus«, sagte er zu Susan.
»Wie bitte?«
Archie fing sich. »Bitte«, sagte er. »Wir müssen uns besprechen. Sie können in meinem Büro auf mich warten.«
Sie verschränkte die Arme. »Warum muss ich warten?«
»Ihre Handtasche«, dachte sich Archie rasch einen Grund aus. »Wir müssen sie nach Fingerabdrücken untersuchen. Ich rufe einen Kriminaltechniker.«
Ihr Blick fiel auf die Tasche, und er glaubte, sie würde protestieren.
»Kann ich mein Handy und meine Zigaretten rausholen?«
»Nur zu.«
Sie hob einen der Tampons vom Tisch auf. »Und den werde ich auch brauchen«, sagte sie.
28
Archies Büro war ein Raum mit einem Fenster, einem Schreibtisch, drei Sesseln und einem Bücherregal. Es war spartanisch eingerichtet. Susan fand, es sah aus wie eine dieser Pornokulissen aus den 1980ern, wo die Praktikantin von einem leitenden Angestellten, der nur eine rot-weiß gestreifte Krawatte trägt, über den Schreibtisch gebogen wird. Sie hatte es Archie nie erzählt. Natürlich nicht.
Sein Schreibtischsessel hatte nicht einmal Armlehnen.
Sie drehte sich langsam darin.
Er machte sich bestimmt Vorwürfe. Weil er den Jungen verloren hatte.
Auf Archies Schreibtisch stand ein Computer. Der Monitor war flach und schwarz, aber der Rechner war älter als die beim Herald . Er war wahrscheinlich passwortgeschützt. Aber es spielte keine Rolle. Susan hob ihr Handy vom Schreibtisch auf und googelte »vermisster Patrick Lifton, Washington«.
Eine Seite Resultate öffnete sich.
Smartphones waren einfach wunderbar.
Sie klickte auf den ersten Treffer. Es war eine von der Familie betriebene Website. Sie enthielt eine Aufnahme von Patrick Lifton im Alter von acht Jahren, er lächelte und hielt einen Fußball unter dem Arm. Einer seiner oberen Vorderzähne fehlte. WER HAT MICH GESEHEN ? schrie es in Fettschrift von der Zeile über seinem Kopf.
Alle Informationen waren da. Patrick Lifton war in Aberdeen zur Welt gekommen und hatte seine ersten acht Lebensjahre dort verbracht. Susan kannte den Ort – eine Kleinstadt etwa sechzig Kilometer nördlich von Portland, wo selbst vor der Schließung der Papierfabriken und dem Austrocknen der Lachsgewässer schon tote Hose gewesen war.
Sei Vater arbeitete in einer der verbliebenen Papierfabriken, und seine Mutter wurde als »selbstständig« bezeichnet. Ihr Sohn war an einem Samstagnachmittag von zu Hause aufgebrochen, um zu einem Freund zu gehen, der drei Straßen entfernt wohnte. Es war das dritte Mal gewesen, dass er die Strecke allein gehen durfte. Die Mutter des Freunds rief eine halbe Stunde nach Patricks Aufbruch an. Er war nicht angekommen.
Der Rest war nur zu bekannt. Patricks Eltern suchten nach ihm. Man rief die Polizei. Bald war eine groß angelegte Suche in Gang. Die Medien wurden eingeschaltet. Niemand hatte etwas gesehen. Es war eine Gegend mit Mietwohnungen. Die Leute kannten einander kaum.
Es gab keine Zeugen. Und keine Verdächtigen.
Susan hoffte, dass der Polizeibericht weitere Informationen enthielt. Wenn der Junge von dem Mann entführt worden war, der Henry vergiftet und drei andere Leute getötet hatte, dann war er wahrscheinlich durch die Hölle gegangen.
Und dieser Mann war ihr nahe genug gekommen, um einen
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