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Totenflut

Titel: Totenflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bent Ohle
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gesehen hatte. Eine Form hatte er nicht erkennen können. Doch diese Farbe war ungewöhnlich für den Wald. Diese Farbe kam in diesem Wald nicht vor. Kein Tier, kein Baum, kein Strauch hatte eine solche Farbe. Er klappte das Visier hoch, um besser sehen zu können. Die Säge lief noch immer in seiner Hand. Etwas leuchtete hinter der Baumkrone. Fischer ging näher. Sein Herz schlug schneller, er musste tief Luft holen. Da war es. Er konnte es sehen. Er ging um die Baumkrone herum, und als er das Mädchen sah, stolperte er vor Schreck zwei Schritte zurück. Die Säge fiel ihm aus der Hand. Er starrte auf ein nacktes Mädchen. Ihre Haut leuchtete wie ein schwaches Licht in dem dunklen Wald. Sie stand einfach nur da und bewegte sich nicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen, doch sie blickte durch Fischer hindurch. Noch nie hatte er so viel Angst gehabt. Noch nie hatte er so etwas Schreckliches gesehen.
    Als Schröder das Revier betreten wollte, kam ihm Elin bereits entgegen. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Etwas war passiert, und es musste von außerordentlicher Wichtigkeit sein. Elins Wangen waren hektisch gerötet, ihre Augen hellwach, und sie stürzte förmlich die Treppe hinunter.
    Â»Schröder!«, rief sie atemlos und packte ihn sogleich bei den Schultern.
    Â»Sie haben Marie Karmann gefunden! Sie lebt!«
    Dr. Voss, der behandelnde Arzt, stand mit Schröder und Elin am Ende eines langen Ganges. Der Boden glänzte wie frisch poliertes Eis. Irgendwo weiter hinten in einem der Zimmer stöhnte jemand vor Schmerz. Vor der letzten Tür waren zwei Beamte postiert, die zu Maries Schutz abgestellt worden waren. Voss sprach mit leiser und tiefer Stimme.
    Â»Was sie erlebt hat, können wir nicht sagen. Wir wissen lediglich, dass sie körperlich einen eher geringen Schaden genommen hat. Bis auf Fesselspuren an Hand- und Fußgelenken konnten wir keine ausgesprochenen Anzeichen von Gewalt ausmachen. Keine Prellungen, Schnittwunden, inneren Verletzungen oder dergleichen. Auch die gynäkologische Untersuchung hat eine Vergewaltigung ausschließen können. Sie war stark dehydriert und unterkühlt. Ich schätze, sie hat mehrere Tage dort im Wald verbracht. Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt.«
    Â»Ist sie vernehmungsfähig?«, fragte Elin. Schröder verstand nicht, wieso Elin immer so taktisch dachte. Warum stellte sie keine Fragen zum Zustand des Mädchens, warum zeigte sie kein Mitgefühl?
    Â»Was immer sie erlebt hat, hat ihr einen schweren Schock zugefügt. Sie ist vollkommen verstummt. Sie hat kein Wort gesprochen bis jetzt, auch nicht zu ihren Eltern. Sie zeigt keinerlei Reaktion, wenn man sie anspricht. Das Mädchen hat ein schweres seelisches Trauma und wird auf unbestimmte Zeit nicht vernehmungsfähig sein.«
    Â»Dürfen wir sie sehen?«, wollte Elin wissen.
    Â»Nur einen kurzen Moment, wenn die Eltern es erlauben. Wir werden auch nicht mit ihr sprechen«, fügte Schrö­der hinzu und rang Voss damit ein vorsichtiges Nicken ab.
    Â»Ich werde die Eltern fragen.«
    Er klopfte an, trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Nach einem kurzen Moment öffnete er sie wieder und hielt den beiden die Tür auf. Schröder und Elin betraten Maries Krankenzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen und bewegten sich geisterhaft. Das Fenster musste offen stehen. Auf dem Tisch lag eine Handtasche, und über den Stuhllehnen hingen unordentlich die Jacken der Eltern. Marie lag im Bett, und ihre Mutter saß neben ihr, mit dem Oberkörper auf das Bett gelehnt und hielt ihre Hand. Sie hing förmlich am Arm ihrer Tochter und ließ ihre Augen keine Sekunde von ihr. Der Vater saß auf der anderen Seite des Bettes am Fußende. Verzweifelte Falten hatten sich in seine Augenhöhlen gegraben. Sein Mund war ein einziger schmerzvoller Strich. Unter der weißen Decke zeichneten sich die Umrisse von Maries schmalem Körper ab. Ihre Augen waren geöffnet. Sie starrte ausdruckslos an die Decke. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regungen. Sie blinzelte nicht einmal. Der Vater erhob sich so schwerfällig, als ob tausend Arme ihn davon abhielten, aufzustehen. Schröder reichte ihm die Hand, zog es aber vor, nichts zu sagen. Elin gab ihm ihre Karte und flüsterte ihm etwas zu, was Schröder aber nicht verstehen konnte. Er sah nur dieses Mädchen da liegen. Sie war dort gewesen. Sie war in der schwarzen Hölle

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