Totenfrau
Verzeih mir. Ohne Worte sagt sie es. Nur ihre Finger, die seine berühren. Sie sprechen, streicheln ihn, trösten ihn. Weil sie weiß, dass er mehr will. Bei ihr sein will, Tag und Nacht. Massimo und Blum. Doch sie kann nicht. Noch nicht. Sie hat Angst davor, sie will es nicht. Dass die Kinder es sehen. Karl. Das Vertraute, das da plötzlich zwischen ihnen ist. Diese Nähe, die Blum jetzt abstreifen will, loswerden will. Es ist wie eine Last plötzlich, dass er da ist, dass er etwas von ihr will, Massimo. Dass sie ihm sagen muss, dass er gehen soll, dass es ihr lieber ist, wenn er anruft, bevor er kommt. Blum weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat, dass sie nur an sich gedacht hat, dass sie ihm wehtut, wenn sie ihm sagen wird, dass er gehen soll. Dass sie alleine sein will. Sie weiß es. Und seine Finger spüren es auch. Sie greifen nach ihr, sehnen sich, schreien. Massimo fleht lautlos um Liebe, doch Blum zieht ihre Hand weg. Sie will nicht mehr berührt werden, sie will nicht mehr daran denken müssen, keine Entscheidungen treffen. Bitte nicht jetzt, Massimo. Lass mir Zeit, bitte. Sie schaut ihn an und bittet ihn zu gehen. Ich muss die Kinder ins Bett bringen, ich rufe dich an. Ich danke dir, du bist ein Engel. Dann bringt sie ihn zur Tür, sie umarmt ihn, sie spürt die Wärme. Doch dann bremst sie sich, sie löst sich und schließt die Tür. Sie ist wieder allein. Mit den Kindern. Kein anderer Mann. Nur Mark. Sie sind eine Familie, sie will daran festhalten, sie will, dass es weitergeht. Das Glück. Das Leben, wie es war.
Zwei Minuten lang bleibt sie in der Garderobe stehen. Sie erlaubt sich nicht, zu weinen. Sie muss den Kindern die Zähne putzen, sie will mit ihnen spielen, will eine gute Mutter sein, ihnen eine Geschichte vorlesen. Sie muss da sein für sie, sie muss ihr schlechtes Gewissen beruhigen, weil Karl so viel übernimmt. Für die Mädchen da ist. Weil sie andere Dinge im Kopf hat. Blum. Alles, was passiert, was seit fünf Wochen ihr Leben durcheinanderwirbelt, sie kann es nicht loswerden. Es ist da, es beschäftigt sie, jede Minute denkt sie daran. Wenn die Mädchen schlafen, wenn sie wach sind. Sie denkt an Dunja. An die Schönborns, an den Priester. Immer. Während sie den Mädchen den Pyjama anzieht, während sie die Geschichte vom tanzenden Pferd vorliest, während sie im Dunkeln neben ihnen liegt und summt. Weil es wie Fieber ist. Dieses Gefühl, die Wut, die Gewissheit, dass Mark noch leben könnte. Alles ist in Bewegung, alles verändert sich.
Die Nacht. Der Morgen. Der Alltag, der sie wiederhat. Bestattungen, Reza, die Kinder. Versorgungen, Leichen und die Tränen der Angehörigen. Dazwischen immer dieselben Fragen. Wie stellt sie es an? Wie schafft sie es, ihn zu überwältigen? Wo kann sie mit ihm allein sein? Wann wird sie es tun? Die Suche nach Antworten, tagelang denkt sie an nichts anderes. An Herbert Jaunig. Sie liest über ihn alles, was sie finden kann im Netz. Sie findet heraus, wo er wohnt, wie er lebt. Sie beobachtet ihn, verfolgt ihn. Sie sieht ihn, wie er im Dom die Messe liest, wie er die Hände hebt und das Brot bricht, wie er den Wein aus einem goldenen Becher trinkt. Ein Priester wie jeder andere, einer dieser Männer Gottes.
Jeden Sonntag hatte Hagen sie in die Kirche geschleppt. Jeden Sonntag hatte Blum gehofft, dass er ihr hilft, der Mann in der Kutte. Der Mann, dem sie gesagt hatte, dass sie nicht mehr leben will. Acht ist sie da gewesen. Sie war allein mit ihm gewesen an einem Nachmittag, nur sie und der Pfarrer. Allein mit ihm im Beichtstuhl, geborgen und traurig. Sie hatte es ihm einfach gesagt. Dass sie nicht mehr atmen kann. Dass sie sich nach einer Umarmung sehnt. Ein achtjähriges Mädchen, das all seinen Mut zusammennimmt. Das versucht, ihr Unglück in Worte zu fassen, das um Hilfe bettelt. Bei dem Mann mit der Kutte. Bei dem Mann, der immer von Liebe gesprochen hatte, von Brüderlichkeit, von Barmherzigkeit. Blum hatte geweint. Sie erinnert sich, ganz leise hatte sie gewimmert. Er hatte es gehört und ihr gesagt, dass sie damit aufhören soll. Seine Stimme war durch das Gitter gekommen. Er hatte nichts getan, das es besser gemacht hätte. Anstatt sie in den Arm zu nehmen, hatte er ihr sein Rezept für das Glück gegeben. Zwei Vaterunser und ein Ave Maria. Drei Gebete für eine glückliche Kindheit. Ein Kind, das sterben wollte. Und ein Mann Gottes.
Jeden Sonntag hatte sie gehofft, dass er sie zur Seite nehmen und ihr helfen würde. Dass er sich erinnert an
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