Totengeld
überfahren worden?
Ich suchte die andere Straßenseite ab, sah die schwarzen Silhouetten von Gewerbebauten. Und dazwischen zinngraue Leerräume.
Ich dachte an die Clubkarte von US Airways in der Handtasche des Mädchens. An John-Henry Story. Warum hatte sie die Karte eines Toten bei sich? War sie mit ihm gereist, als er die Karte das letzte Mal benutzt hatte? Wohin? Hatte er ihr die Karte gegeben? Hatte sie sie ihm gestohlen? Ohne ihn hätte sie die Karte nicht benutzen können. Warum hatte sie sie behalten?
Die Leiche des Mädchens war in der Nähe der Kreuzung Old Pineville und Rountree gefunden worden, nur eine kurze Strecke von mir entfernt. Rannte sie, als sie angefahren wurde? Stand sie auf dem Bankett? Ging sie? Wie weit war sie gekrochen, nachdem sie überfahren worden war?
Ein Laster rumpelte vorbei, wich meinem Mazda in weitem Bogen aus.
Memo an mich selbst: Slidell soll sich bei Lastwagenfahrern umhören, die häufig diese Strecke fahren. Und generell an Fahrer appellieren, die gestern Nacht hier entlanggefahren sind. Aber darauf würde er mit Sicherheit selbst kommen.
Hatte die Kleine das Fahrzeug gesehen, das sie getötet hatte? Hatte sie versucht, ihm auszuweichen, oder wurde sie getroffen, bevor sie sich der Gefahr überhaupt bewusst wurde?
Einen Augenblick stand ich fröstelnd da und lauschte. Die Stille wurde nur vom Geräusch einer vom Wind verwehten Plastikverpackung durchbrochen. Von einer gedämpften Autohupe.
Meine Nase registrierte den Geruch von öligem Beton. Abgase. Trockenes Laub, so wie es nur im Herbst riecht.
Ich schaute die Straße in beide Richtungen entlang. Auf der anderen Seite, vielleicht eine Viertelmeile hinter mir, entdeckte ich ein schwaches, blaues und rotes Blinken, das ich zuvor noch nicht bemerkt hatte. Ich setzte mich hinters Steuer, wendete und fuhr darauf zu.
Das Blinken kam von einem weißen Stuckwürfel, der in grauer Vorzeit wohl eine Tankstelle gewesen war. Eine Lichterkette umrahmte ein Fenster, in dem verblasste Bekanntmachungen einen Großteil des Glases bedeckten. Rote Buchstaben auf der Front verkündeten den Namen des Ladens: Yum-Tum Convenience Mart.
Die einzigen Fahrzeuge auf dem Parkplatz des Yum-Tum waren ein verrosteter grauer Pick-up und ein uralter roter Ford Escort. Ich parkte neben dem Pick-up und stieg aus.
Durch die vergitterte Glastür sah ich eine einzelne Angestellte hinter einer brusthohen Theke. Ein Alarmsignal ertönte, als ich eintrat.
Mir fielen Deckenkameras auf, eine gegenüber der Theke, die andere in einer Ecke, das Objektiv auf die Tür gerichtet. Beide sahen betagt aus. Meiner Vermutung nach waren sie so programmiert, dass sie die Aufzeichnungen alle vierundzwanzig Stunden überschrieben.
Wenn sie überhaupt funktionierten.
Memo an mich selbst. Slidell wegen der Überwachungsbänder fragen.
Ein Mann in Bermudashorts, Basketballschuhen und einem Trikot der Charlotte Panthers zahlte eben an der Kasse. Während ich wartete, bis er fertig war, prägte ich mir weitere Details ein.
Bier, Limonaden und Milch in den Kühlschränken. Regal mit Salzigem und Frittiertem in Tüten mit Warnungen vor Gesundheitsgefahren. Unter Wärmelampen Donuts, die wie Plastik glänzten. Würstchen, die sich auf einem fettigen Grill drehten. Der Laden war ein Terrorangriff auf den Verdauungsapparat.
Wortlos gab die Angestellte Bermuda sein Wechselgeld. Sie hatte platinblonde Haare, eine milchige Haut und dunkle Gothic-Augen. Die Kombination wirkte tough und zugleich unschuldig. Wie das Halloween-Missgeschick einer Zwölfjährigen.
Während Bermuda den Laden verließ, nahm ich mir ein Päckchen Minzbonbons und ging zur Theke.
»Viel zu tun?«
»Ist das alles?«
»Ja.« Ich hielt ihr einen Zehner hin. »Haben Sie gestern Nacht auch gearbeitet?«
»Ich arbeite jede Nacht.«
»Dann haben Sie den Unfall gesehen?«
Die Morticia-Addams-Augen hoben sich zu meinen. Verengten sich. »Irgendwie schon.«
»Was haben Sie sich dabei gedacht?«
»Warum fragen Sie?«
»Ich arbeite für das Büro des Medical Examiner. Ich habe das Opfer untersucht.«
»Also, ihre Leiche?«
Nein, du Genie. Ihre Socken. »Ja, ihre Leiche.«
»Also, dann sind Sie der Coroner?«
»Ich arbeite für den Medical Examiner.«
»Also, in einer Leichenhalle?«
Wenn man das Wort »also« aus ihrem Wortschatz entfernte, wäre die Kleine sprachlos.
»Ja.«
»Schätze, das ist cool.«
»Ja. Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«
»Shannon King.«
»Sind Sie Studentin,
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