Totengeld
Shannon?«
»Ich belege Kurse am Community College.«
»Das ist aber sehr tüchtig.«
»Mein Englischlehrer lässt uns Blogs schreiben. Das ist ziemlich happig, weil, wissen Sie, ich bin jede Nacht hier und auch an einigen Nachmittagen. Wie viel kann man über Cheetos und Pepsi schon schreiben?«
»Dann sind Sie sicher eine gute Beobachterin.«
King schaute mich an, als wüsste sie nicht so recht, ob ich mich über sie lustig machte. Dann: »Glaub schon.«
»Der Unfall zum Beispiel.«
»Ich habe rein gar nichts gesehen. Und nichts gehört, bis die Sirenen kamen.«
»Wirklich?«
»Hören Sie, ich weiß, was Sie denken. Ich hab zu mir selber gesagt, Shannie, du musst doch etwas gehört haben. Reifenquietschen. Den Knall. Irgendwas. Hab ich aber nicht.«
»Bis zu den Sirenen.«
Sie atmete tief ein, dann senkten sich die oberen Zähne auf die Unterlippe.
»Abgesehen von?«, fragte ich.
»Ich will nicht blöd klingen.«
Zu spät.
»Das werden Sie auf keinen Fall«, sagte ich.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, vielleicht ist das ja, also ich mein, irgendwie nachträglich da reininterpretiert.«
»Jede Kleinigkeit könnte sich als wichtig erweisen.«
»Vielleicht hat irgendjemand geschrien. Aber nicht in der Nähe. Es war mehr wie ein Jaulen. Aber es hätte auch ein vorbeifahrendes Auto sein können, in dem der Fahrer die Sender wechselt. Oder eine Katze.«
»Oder ein Schrei.«
»Ja, ein Schrei.«
»Sie sind nicht rausgegangen, um nachzusehen.«
»Doch, bin ich schon. Der Laden war, also, total leer. Aber da war nichts. Wie jede Nacht.«
»Haben Sie irgendwelche Fahrzeuge gesehen, die schnell gebremst oder beschleunigt haben?«
»Nöö.«
»Es war gut, dass Sie nachgesehen haben.«
»Hören Sie, ich werde versuchen, in meinen Erinnerungen zu kramen.« Sie zuckte die Achseln, als wäre ihr dieser für ihre Verhältnisse ungezügelte Enthusiasmus etwas peinlich. »Hilft mir vielleicht bei meinem Blog. Das ist alles.«
»Das wäre gut.«
»Oder ich kann auch Kunden fragen. So ganz cool und nebenbei. Also wie: ›Haben Sie diesen Unfall Montagnacht gesehen?‹ So wie Sie es bei mir gemacht haben.«
Ich gab ihr das Polaroid, das ich im Kühlraum geschossen hatte. »Haben Sie dieses Mädchen schon einmal gesehen?«
»Ist sie das?« Sie starrte das Foto an. »Die getötet wurde?«
»Ja.«
»Ach du Scheiße. Ist die jung.«
»Ja.«
»Wie heißt sie?«
»Das wissen wir nicht. Wir versuchen, es herauszufinden.«
»Wenn ich Ihnen nur helfen könnte.« Sie schob mir das Foto wieder zu. Hielt inne. »Ich könnte es behalten. Es herumzeigen. Soll ich das machen?«
Ich überlegte, entschied mich dann aber dagegen. Nicht wenn sie in den Nächten so oft alleine war. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie den Falschen aufschreckte.
»Ich werde mit dem Ermittlungsleiter reden, ob er Ihnen eine Kopie zukommen lassen kann.«
»Wie heißt der?«
»Detective Slidell.«
»Wird er mich anrufen?«
»Bestimmt.«
Ich gab ihr meine Karte. »Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt. Egal was.«
Meine Hand lag schon auf dem Türknauf, als ihre Frage mich aufhielt.
»Was hat sie so spät noch hier draußen getrieben?«
»Ich weiß es nicht, Shannon. Aber ich werde es herausfinden.«
Dreißig Minuten später war ich zu Hause und im Bett.
10
In dieser Nacht träumte ich in zerfasernden Fetzen, die beim Aufwachen alle vergessen waren. Bis auf einen.
Ryan ging eine schattige, von dunklen, miteinander verflochtenen Zweigen überwölbte Straße entlang. Er hatte mir den Rücken zugekehrt.
Ich rief ihn, aber er blieb nicht stehen. Von vorne näherte sich ein Auto, gleißende Scheinwerfer erhellten seinen langen, schlaksigen Umriss.
Ryan drehte sich um. Langsam verwandelte sein Gesicht sich in Petes.
Die Pete-Ryan-Gestalt kam, einen zusammengeklappten Regenschirm wirbelnd, auf mich zu. Als sie bei mir war, stach sie mir immer wieder mit der Spitze in die Seite.
Ich öffnete die Augen. Spürte einen Druck unter den Rippen.
Ich griff unter mich, spürte etwas Hartes auf der Matratze. Ich holte es hervor.
Mein litauischer Bernsteinring war mir vom Finger gerutscht. Oder ich hatte ihn in der Nacht abgestreift.
So oder so, eins war klar. Ich hatte abgenommen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte er sehr straff gesessen. War es der Stress?
Ich lag eine Weile im Bett und ging den Traum noch einmal durch. Was würde der alte Sigmund dazu sagen?
Ich dachte an die peruanischen Hunde.
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