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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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schmutzigen Ärmel über die Augen. »Dort sind wir in Sicherheit. Das weiß ich.«
    Es war pures magisches Denken, aber es war alles, was ihm geblieben war. Denn er würde sich nie wieder irgendwo sicher fühlen können.
    Sie spähte zum Gipfel hinauf. Für den Anstieg würden sie mindestens einen halben Tag brauchen, aber dann wären sie wenigstens in der strategisch günstigeren Position – falls sie sich zur Wehr setzen mussten.
    »Rat«, sagte sie, »wenn sie zu nahe kommen, wenn sie uns einholen, dann musst du mir eines versprechen: Du musst mich zurücklassen. Und mich mit ihnen reden lassen.«
    »Und wenn sie gar nicht reden wollen?«
    »Es könnten Polizisten sein.«
    »Der Letzte war auch einer.«
    »Ich kann sie nicht abhängen, aber du kannst es. Du kannst uns wahrscheinlich alle abhängen. Ich halte dich nur auf. Also bleibe ich am besten zurück und rede mit ihnen. Wenn ich schon sonst nichts erreiche, kann ich sie wenigstens so lange ablenken, dass du genug Zeit hast zu fliehen.«
    Er starrte sie an, und seine dunklen Augen schimmerten plötzlich feucht. »Das würden Sie wirklich tun?«, fragte er. »Für mich?«
    Sie streckte die Hand aus und wischte mit einem behandschuhten Finger seine Tränen weg. »Deine Mutter muss verrückt gewesen sein«, sagte sie leise. »Einen Jungen wie dich wegzugeben.«
    Bear gab ein ungeduldiges Wuff von sich, und der Blick, mit dem er sie anstarrte, schien zu sagen: Worauf wartet ihr denn?
    Sie lächelte den Jungen an. Dann zwang sie ihre schmerzenden Beine, sich wieder in Bewegung zu setzen, und beide folgten dem Hund den Berg hinauf.
    Bis zum späten Nachmittag waren sie über die Baumgrenze gelangt, und Maura hatte keinen Zweifel, dass ihre Verfolger sie jetzt mühelos ausmachen konnten – drei dunkle Gestalten, die sich den kahlen weißen Berghang hinaufbewegten. Sie können uns sehen, dachte sie, so wie wir sie sehen können. Jäger und Beute, nur durch ein Tal getrennt. Und sie kam viel zu langsam voran, der rechte Schneeschuh schlackerte an ihrem Stiefel, ihr Atem ging pfeifend in der dünnen Luft. Die Verfolger holten immer weiter auf. Sie waren nicht müde und angeschlagen und ausgehungert nach Tagen in der Wildnis; sie hatten nicht den Körper einer zweiundvierzigjährigen Städterin, deren sportliche Betätigung sich normalerweise auf einen gemächlichen Spaziergang im Park beschränkte. Wie war sie in diese absurde Situation geraten? Da schleppte sie sich einen Berg hinauf, zusammen mit einem Hund von zweifelhafter Abstammung und einem verstoßenen Jungen, der keinem Menschen traute und dazu auch allen Grund hatte. Das waren die beiden einzigen Wesen, auf die sie hier draußen zählen konnte: diese beiden Freunde, die schon mehr als einmal ihre Verlässlichkeit unter Beweis gestellt hatten.
    Sie blickte hinauf zu Rat, der unermüdlich voranschritt, und er kam ihr viel jünger vor als sechzehn, nur ein verängstigtes Kind, das flink wie eine Bergziege den Hang hinaufkletterte. Aber sie war am Ende ihrer Kräfte, und inzwischen konnte sie kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Sie kämpfte sich den Pfad hinauf, die Schneeschuhe knarrten unter ihrem Gewicht, während sie in Gedanken schon bei dem bevorstehenden Zusammentreffen war. Noch vor Einbruch der Dunkelheit würde es so weit sein. So oder so – bevor die Sonne untergeht, ist alles entschieden . Sie blickte sich kurz um und sah ihre Verfolger bereits aus dem Wald unter ihnen auftauchen. So nahe.
    Bald werden wir in Schussweite ihrer Gewehre sein.
    Sie sah wieder nach oben, zum Gipfel, der immer noch hoch über ihnen aufragte, und der letzte Rest ihrer Kraft schien von ihr abzufallen wie Asche.
    »Kommen Sie!«, rief Rat ihr zu.
    »Ich kann nicht.« Sie blieb stehen, sank kraftlos gegen einen massiven Felsbrocken und flüsterte: »Ich kann nicht.«
    Er kletterte zu ihr herunter, so hastig, dass der Pulverschnee aufstob, und packte ihren Arm. »Aber Sie müssen!«
    »Es ist so weit«, sagte sie. »Du musst mich jetzt zurücklassen.«
    Er zerrte an ihrem Arm. »Die werden Sie umbringen.«
    Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Rat, hör mir zu. Es spielt jetzt keine Rolle, was aus mir wird. Ich will, dass du durchkommst!«
    »Nein, ich lass Sie nicht allein.« Seine Stimme brach, wurde zu einem kindlichen Schluchzen, zum verzweifelten Flehen eines kleinen Jungen. »Bitte, versuchen Sie es. Bitte. « Er bettelte jetzt; Tränen strömten ihm übers Gesicht. Dabei zerrte er

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