Totengrund
…«
»Geben Sie mir einfach die Waffe.« Es war ein älterer Mann, mit unerbittlichen Augen und Autorität in der Stimme. Obwohl er leise gesprochen hatte, duldete seine Aufforderung keinen Widerspruch. »Geben Sie sie mir. Schön langsam.«
Erst als sie die Hand hob, um seinem Befehl Folge zu leisten, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler machte – einen fatalen Fehler. Sie hatte die Waffe in der Hand, hatte den Arm gehoben, um sie ihm zu übergeben. Die Männer, die sie von dort unten beobachteten, würden keine Frau sehen, die im Begriff war, sich zu ergeben. Sie würden eine Frau sehen, die jeden Moment abdrücken könnte. Sofort ließ sie die Waffe los, und sie glitt ihr aus den Fingern. Doch der Mann, der über ihr stand, hatte schon sein Gewehr gehoben und legte an. Sein Entschluss, sie zu erschießen, war schon gefasst.
Der Knall ließ sie zusammenfahren. Sie fiel auf die Knie, kauerte sich neben Rat in den Schnee. Und fragte sich, warum sie keine Schmerzen fühlte, warum sie kein Blut sah. Warum bin ich noch am Leben?
Der Mann oben auf dem Felsbrocken gab ein überraschtes Grunzen von sich, als das Gewehr aus seiner Hand fiel. »Wer schießt da auf mich?«, schrie er.
»Zurück, Loftus! Gehen Sie weg von ihr!«, war eine Stimme zu vernehmen.
»Sie wollte mich erschießen! Ich musste mich verteidigen!«
»Ich sagte, zurück !«
Ich kenne diese Stimme. Das ist Gabriel Dean.
Langsam hob Maura den Kopf und sah nicht eine, sondern zwei vertraute Gestalten auf sich zukommen. Gabriel zielte mit seiner Waffe auf den Mann auf dem Felsen, während Anthony Sansone an ihre Seite eilte.
»Ist alles in Ordnung, Maura?«, fragte Sansone.
Sie hatte keine Zeit für Fragen, keine Zeit, sich über das wundersame Auftauchen dieser beiden Männer den Kopf zu zerbrechen. »Er stirbt«, schluchzte sie. »Helft mir, ihn zu retten.«
Sansone sank neben dem Jungen auf die Knie. »Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
»Ich werde eine Thoraxdrainage machen. Ich brauche einen Schlauch oder irgendeinen anderen hohlen Gegenstand – ein Kugelschreiber tut’s auch!«
Sie nahm Rats Messer und starrte den mageren Brustkorb an, die Rippen, die sich so deutlich unter der blassen Haut abzeichneten. Selbst hier in diesen eisigen Höhen war ihre Hand, die den Griff umklammerte, schweißnass, als sie all ihren Mut für den nächsten notwendigen Schritt zusammennahm.
Sie fand die richtige Stelle, setzte die Messerspitze auf die Haut und schlitzte die Brust des Jungen auf.
32
»Er hätte mich umgebracht«, sagte Maura. »Wenn Gabriel und Sansone ihn nicht daran gehindert hätten, dann hätte dieser Mann mich kaltblütig abgeknallt, so wie er es mit Rat gemacht hat. Ohne Fragen zu stellen.«
Jane sah zu ihrem Mann, der am Fenster stand und auf den Parkplatz des Krankenhauses hinausblickte. Gabriel widersprach Mauras Version nicht, bestätigte sie aber auch nicht. Die ganze Zeit schon war er merkwürdig wortkarg und ließ Maura erzählen. Bis auf das Gemurmel des Fernsehers, dessen Ton heruntergedreht war, herrschte im Besucherzimmer der Intensivstation Stille.
»Irgendetwas ist ausgesprochen faul an dem, was dort oben passiert ist«, sagte Maura. »Irgendetwas ergibt einfach keinen Sinn. Warum war er so entschlossen, uns zu töten?« Sie blickte auf, und Jane konnte ihre Freundin in diesem hageren und zerschrammten Gesicht kaum wiedererkennen. Mauras sonst so makellose Haut war von Kratzern entstellt, auf denen sich bereits Schorf gebildet hatte. Die neue Strickweste, die sie trug, war ihr viel zu weit, und über ihrem erschreckend mageren Brustkorb zeichneten sich die Schlüsselbeine ab. Ohne ihre eleganten Kleider und ihr Make-up wirkte Maura so verletzlich wie nur irgendeine Frau, und das beunruhigte Jane. Wenn selbst die kühle, abgeklärte und selbstsichere Maura Isles zu so einem mitleiderregenden Häufchen Elend herabsinken konnte, dann konnte das jedem passieren. Auch mir , dachte sie .
»Ein Deputy wurde erschossen«, sagte Jane. »Du weißt ja, was sich regelmäßig abspielt, wenn es einen Polizisten erwischt. Da wird schon mal gerne kurzer Prozess gemacht.« Wieder ging ihr Blick zu ihrem Mann. Sie wartete darauf, dass er ihre Bemerkung kommentierte, doch Gabriel starrte nur weiter in den gleißend klaren Morgen hinaus. Zwar hatte er sich nach ihrer Rückkehr aus den Bergen rasiert und geduscht, doch er sah immer noch erschöpft und mitgenommen aus, als er mit müden Augen in den Sonnenschein blinzelte.
»Nein, er
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