Totengrund
aufgelauert. Wenn wir nicht dazwischengegangen wären, hätte er sie beide erschossen.«
»Was ist sein Motiv?«
»Er behauptet, er wollte nur dafür sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Und hier im Ort stellt das niemand infrage. Kein Wunder – es sind ja alles seine Freunde und Nachbarn.«
Und wir sind nur die lästigen Fremden, die überall herumschnüffeln, dachte Jane. Sie sah aus dem Fenster auf den Parkplatz, wo Sansone mit Bear zu seinem Wagen ging. Sie gaben ein merkwürdiges Paar ab, der zottelige Hund und der Mann im Kaschmirmantel. Aber Bear schien ihm zu vertrauen und sprang bereitwillig auf die Rückbank, als Sansone die Tür aufhielt, um mit ihm zum Hotel zurückzufahren.
»Martineau und Loftus«, sagte Jane leise. »Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden?«
»Vielleicht lassen sich die Geldbewegungen zurückverfolgen. Wenn Martineau von der Dahlia Group bezahlt wurde …«
Sie sah Gabriel an. »Ich habe gehört, dass Montgomery Loftus in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Er kann die Double-L-Ranch nur noch mit Mühe und Not halten. Beste Voraussetzungen, um sich kaufen zu lassen.«
»Um Maura und einen sechzehnjährigen Jungen zu ermorden?« Gabriel schüttelte den Kopf. »Er kommt mir nicht vor wie ein Mann, der sich mit Geld allein kaufen lässt.«
»Vielleicht war es sehr viel Geld. Und wenn es so ist, dann wird es sich schwerlich vertuschen lassen.«
Gabriel sah auf seine Uhr. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir nach Denver aufbrechen.«
»Zur FBI-Außenstelle?«
»Es gibt da eine mysteriöse Tarnfirma in Maryland. Und irgendjemand wirft mit großen Geldsummen um sich. Ich habe so langsam das Gefühl, dass wir da an einer richtig großen Sache dran sind, Jane.«
»Sind einundvierzig Tote nicht schon eine ziemlich große Sache?«
Er schüttelte ernst den Kopf. »Das ist vielleicht nur die Spitze des Eisbergs.«
33
Auf der Intensivstation hielt Maura im Eingangsbereich inne und starrte betroffen auf das Gewirr von Schläuchen und Kathetern, die sich über Rats Körper schlängelten; eine Tortur, der kein Sechzehnjähriger unterworfen sein sollte. Doch der Rhythmus, den der Herzmonitor anzeigte, war beruhigend stabil, und der Junge atmete jetzt selbstständig.
Als er sie bemerkte, schlug er die Augen auf und lächelte. »Hallo, Ma’am.«
»Ach, Rat«, seufzte sie. »Wann hörst du endlich auf, mich so zu nennen?«
»Wie soll ich Sie denn nennen?«
Du hast mich schon einmal Mommy genannt . Sie blinzelte die Tränen weg, als die Erinnerung sie übermannte. Die leibliche Mutter des Jungen war mit hoher Wahrscheinlichkeit unter den Toten, aber Maura brachte es nicht übers Herz, es ihm zu sagen. »Du hast meine Genehmigung, mich zu nennen, wie immer du willst. Aber mein Name ist Maura.«
Sie setzte sich auf den Stuhl an seinem Bett und nahm seine Hand. Ihr fiel auf, wie schwielig und verschorft sie war, die Fingernägel immer noch mit hartnäckigem Schmutz verkrustet. Sie, die sonst eher vor körperlicher Nähe zurückschreckte, nahm jetzt diese lädierte Hand in ihre, und sie tat es ohne Zögern. Es fühlte sich natürlich und richtig an.
»Wie geht es Bear?«, fragte er.
Sie lachte. »Du würdest seinen Namen in ›Vielfraß‹ ändern, wenn du gesehen hättest, wie er sich den Bauch vollgeschlagen hat.«
»Er ist also okay?«
»Meine Freunde haben ihn nach Strich und Faden verwöhnt. Und deine Pflegeeltern haben versprochen, dass sie sich um ihn kümmern werden, bis du wieder nach Hause kommst.«
»Oh. Die.« Rats Blick löste sich von ihr, und er starrte apathisch die Decke an. »Ich schätze mal, dass ich wieder zu denen komme.«
Es war offensichtlich, dass er dazu nicht die geringste Lust verspürte. Aber welche Alternative konnte Maura ihm bieten? Ein Zuhause bei einer geschiedenen Frau, die keinerlei Erfahrung mit Kindererziehung hatte? Bei einer Frau, die eine heimliche Affäre mit einem Mann hatte – eine Beziehung, zu der sie sich niemals würde offen bekennen können? Sie war ein denkbar schlechtes Vorbild für einen Teenager, und ihr Leben war so schon kompliziert genug. Und doch lag ihr das Angebot auf der Zunge – das Angebot, ihn zu sich zu nehmen, ihn glücklich zu machen, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Seine Mutter zu sein. Oh, wie leicht es wäre, so ein Angebot zu machen, und wenn es einmal ausgesprochen wäre, wie schwer, ja unmöglich zu widerrufen. Sei vernünftig, Maura, dachte sie. Du kannst ja nicht einmal
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