Totengrund
wohlgefüllte Regale zum Vorschein kamen. »Da ist Mehl. Getrocknete Bohnen. Und so viel Dosenmais und Pfirsiche und Essiggurken, dass es uns bis zum St. Nimmerleinstag reicht.«
»Typisch, dass ausgerechnet Arlo die Lebensmittelvorräte entdeckt«, meinte Elaine.
»Ich bin nun mal der geborene Jäger und Sammler. Wenigstens werden wir nicht verhungern.«
»Als ob du es je so weit kommen lassen würdest.«
»Und wenn wir in dem Holzherd auch ein Feuer machen«, sagte Maura, »wird es schneller warm im Haus.«
Doug sah zum Obergeschoss hinauf. »Vorausgesetzt, sie haben nicht noch mehr Fenster offen gelassen. Wir sollten uns auch in den anderen Zimmern umschauen.«
Wieder wollte niemand allein zurückbleiben. Doug steckte den Kopf in die leere Garage und ging dann weiter. Er hielt die Öllampe hoch, doch in ihrem Schein erblickten sie nur schemenhafte Stufen, die oben in der Dunkelheit verschwanden. Sie begannen hinaufzusteigen, Maura ganz am Schluss, wo es am dunkelsten war. In Horrorfilmen war es immer die Nachhut, die zuerst dran glauben musste, der Unglückliche am Ende der Kolonne, der den Pfeil in den Rücken bekam, den der erste Axthieb traf. Sie blickte sich um, doch hinter ihr war nur das düstere Treppenhaus.
Das erste Zimmer, an dem Doug stehen blieb, war ein Schlafzimmer. Sie drängten sich alle durch die Tür und erblickten ein großes, ordentlich gemachtes Bett mit geschnitztem Kopf- und Fußbrett. Am Fußende stand eine Aussteuertruhe aus Kiefernholz, über die jemand eine Jeans geworfen hatte. Eine Herrenhose, mit einem speckigen Ledergürtel. Der Boden war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, hereingeweht durch das Fenster, das auch hier offen stand. Doug schloss es.
Maura ging zur Kommode und nahm ein Foto in einem schlichten Blechrahmen in die Hand. Vier Gesichter blickten sie an: ein Mann und eine Frau, und in ihrer Mitte zwei kleine Mädchen von neun oder zehn Jahren mit sorgfältig geflochtenen blonden Zöpfen. Der Mann hatte nach hinten gegelte Haare, und sein strenger Blick schien jeden zu warnen, der seine Autorität anzuzweifeln wagte. Die Frau war unscheinbar und blass, das blonde Haar zu Zöpfen geflochten, ihre Züge so farblos, dass sie mit dem Hintergrund zu verschmelzen schien. Maura stellte sich diese Frau bei der Arbeit in der Küche vor, sah Strähnen ihres weißblonden Haars, die sich aus ihrem Zopf lösten und ihr über die Wange strichen wie Federn. Sie malte sich aus, wie die Frau den Tisch mit Tellern und Gabeln deckte und das Essen austeilte. Für jeden einen Schlag Kartoffelpüree und eine Portion Hackfleischbällchen mit Soße.
Und was war dann passiert? Was konnte eine Familie dazu bringen, ihr Essen stehen zu lassen, bis es in der Kälte zu Eis erstarrte?
Elaine packte Dougs Arm. »Hast du das gehört?«, flüsterte sie.
Sie verharrten alle regungslos. Jetzt erst hörte Maura das Knarren – wie von Schritten auf den Dielen.
Ganz langsam schlich Doug hinaus in den Flur und auf die zweite Tür zu. Er hielt die Lampe hoch, als er in das Zimmer trat, und sie erblickten ein zweites Schlafzimmer.
Dann lachte Elaine auf. »Mein Gott, sind wir blöd!« Sie deutete auf den Wandschrank – auf die Tür, die im Luftzug vom offenen Fenster knarrend hin und her schwang. Erleichtert ließ sie sich auf eines der beiden Einzelbetten sinken. »Ein leeres Haus, das ist alles! Und wir haben uns vor Angst fast in die Hosen gemacht.«
»Du vielleicht«, meinte Arlo.
»Ach ja – als ob du keine Panik geschoben hättest.«
Maura schloss das Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Sie sah keine Lichter; nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass in dieser Welt außer ihnen noch etwas lebte. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Schulbücher. Materialien für den unabhängigen Heimunterricht. Stufe 4. Sie schlug das oberste Buch auf und sah eine Seite mit Rechtschreibübungen. Auf dem Innendeckel stand in Druckbuchstaben der Name der Schülerin: Abigail Stratton. Eines der beiden Mädchen auf dem Foto, dachte sie. Das hier ist ihr Zimmer. Doch als sie sich umblickte, konnte sie an den Wänden keine Hinweise darauf entdecken, dass hier zwei Mädchen an der Schwelle zur Pubertät wohnten. Keine Filmplakate, keine Poster von Teenie-Idolen. Nur zwei sorgfältig gemachte Einzelbetten und diese Schulbücher.
»Ich glaube, jetzt können wir getrost sagen, dass dieses Haus ganz uns gehört«, meinte Doug. »Wir müssen nur ausharren, bis jemand uns suchen kommt.«
»Und wenn niemand
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