Totengrund
Arlo ins Haus brachten, hatte er schon wieder das Bewusstsein verloren. Angesichts dessen, was sie als Nächstes tun mussten, war das ein Segen. Mit dem Taschenmesser und der Schere schnitten Maura und Doug die Reste von Arlos Kleidern weg. Er hatte seine Blase entleert, und sie rochen den beißenden Ammoniakgestank des Urins, der seine Hose tränkte. Ohne das Stauband zu lockern, schälten sie die zerfetzten und blutgetränkten Stofffetzen ab, bis der Verletzte nackt dalag, hilflos und mit entblößten Genitalien. Es war kein passender Anblick für eine Dreizehnjährige, und Doug wandte sich sogleich an seine Tochter.
»Grace, wir brauchen noch viel mehr Holz für das Feuer. Geh raus und hol welches. Geh , Grace!«
Sein scharfer Ton riss sie aus ihrer Trance. Sie nickte benommen und verließ das Haus. Ein kalter Luftzug wehte herein, ehe die Tür hinter ihr zufiel.
»Mein Gott«, murmelte Doug, als er seine volle Aufmerksamkeit Arlos linkem Bein zuwandte. »Wo sollen wir anfangen?«
Anfangen? Es war ja kaum noch etwas da, womit man arbeiten konnte, nur zermalmtes Knorpelgewebe und zerfetzte Muskeln. Der Knöchel war um fast hundertachtzig Grad verdreht, doch der Fuß selbst war auf groteske Weise unversehrt, wenngleich von leblos blauer Farbe. Man hätte ihn für ein Plastikmodell halten können, wäre da nicht die dicke und allzu echt wirkende Schwiele an der Ferse gewesen. Der Fuß stirbt ab, dachte sie. Der Gürtel unterband die Blutzufuhr; und sie musste den Fuß nicht erst anfassen, um zu wissen, dass er sich kalt anfühlen, dass sie keinen Puls finden würde.
»Er wird das Bein verlieren«, sagte Doug und sprach damit aus, was sie dachte. »Wir müssen das Stauband lockern.«
»Wird er dann nicht wieder zu bluten anfangen?«, fragte Elaine. Sie war am anderen Ende des Zimmers stehen geblieben und wandte den Blick ab.
»Er würde wollen, dass wir sein Bein retten, Elaine.«
»Wenn ihr das Stauband abnehmt, wie wollt ihr dann verhindern, dass er verblutet?«
»Wir werden die verletzte Arterie isolieren und abbinden müssen. Dadurch wird die Blutversorgung des Beins teilweise unterbrochen, aber wenn wir Glück haben, reichen die verbliebenen Gefäße aus, um das Gewebe vor dem Absterben zu bewahren.« Er starrte auf das Bein. »Wir brauchen Instrumente. Nahtmaterial. Hier im Haus muss doch irgendwo ein Nähkasten sein. Pinzetten, ein scharfes Messer. Elaine, mach einen Topf voll Wasser heiß.«
»Doug«, unterbrach ihn Maura, »wahrscheinlich sind mehrere Blutgefäße gerissen. Selbst wenn wir eines abbinden, könnte er durch die anderen noch verbluten. Wir können sie nicht alle freilegen und abbinden. Nicht ohne Betäubung.«
»Dann können wir auch gleich amputieren. Ist es das, was du vorschlägst? Dass wir das Bein einfach aufgeben?«
»Wenigstens wäre er danach noch am Leben.«
»Und sein Bein wäre weg. Ich an seiner Stelle würde das nicht wollen.«
»Du bist aber nicht an seiner Stelle. Du kannst diese Entscheidung nicht für ihn treffen.«
»Du auch nicht, Maura.«
Sie sah Arlo an und versuchte, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, das Bein aufzuschneiden, in seinem Fleisch herumzuwühlen, das noch lebendig und schmerzempfindlich war. Sie war keine Chirurgin. Aus den Körpern, die auf ihrem Tisch landeten, spritzte kein Blut, wenn sie sie aufschnitt. Ihre »Patienten« schrien nicht.
Das könnte ein einziges blutiges Gemetzel werden.
»Also, wir haben genau zwei Möglichkeiten«, sagte Doug. »Entweder wir versuchen, das Bein zu retten, oder wir lassen es so, wie es ist, und lassen zu, dass das Gewebe nekrotisiert und brandig wird. Dann stirbt er vielleicht daran. Ich sehe sonst keine Alternativen. Wir müssen irgendetwas tun.«
» ›Primum non nocere – zuerst einmal nicht schaden.‹ Denkst du nicht, dass dieser Grundsatz hier zutrifft?«
»Ich glaube, wir werden es bereuen, wenn wir nicht handeln. Es ist unsere Verantwortung, wenigstens einen Versuch zu unternehmen, das Bein zu retten.«
Sie sahen beide nach unten, als Arlo stockend Atem schöpfte und stöhnte.
Bitte, wach nicht auf, dachte sie. Zwing uns nicht, an dir herumzuschneiden, während du wie am Spieß brüllst.
Aber Arlo schlug langsam die Lider auf, und obwohl seine Augen getrübt waren, war er zweifellos bei Bewusstsein und mühte sich, den Blick auf ihr Gesicht zu richten. »Wäre … wäre lieber tot«, flüsterte er. »O Gott, ich ertrag das nicht.«
»Arlo«, sagte Doug. »He, Alter, wir besorgen dir
Weitere Kostenlose Bücher