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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sie den Schlitten herunternahm, stellte sie sich vor, wie der Hausherr oder die Hausfrau diese Nägel eingeschlagen hatte, um die Werkzeuge so hoch aufzuhängen, dass Kinderhände sie nicht erreichen konnten. Der Schlitten war aus Birkenholz und wies kein Herstellerkennzeichen auf. Selbst gebaut, und zwar mit großer Sorgfalt, die Kufen glatt geschmirgelt und frisch poliert für den Winter. All das registrierte sie mit einem Blick. Das Adrenalin hatte ihre Sinne geschärft, und ihre Nerven vibrierten wie Hochspannungsleitungen. Sie sah sich noch rasch in der Garage um und nahm alles mit, was sie eventuell gebrauchen könnten: Skistöcke und Seil, ein Taschenmesser und eine Rolle Paketklebeband.
    Der Schlitten war schwer, und als sie ihn die steile Straße hinaufzog, geriet sie schnell ins Schwitzen. Aber besser schuften wie ein Ackergaul, als hilflos neben dem verstümmelten Körper eines Freundes knien zu müssen und sich den Kopf darüber zu zermartern, wie man ihm helfen könnte. Sie rang jetzt nach Luft, während sie die rutschige Straße hinaufstapfte, und fragte sich, ob sie Arlo noch lebend antreffen würde. Und dann schoss ihr unvermittelt ein Gedanke durch den Kopf – ein Gedanke, der sie schockierte, der sich aber gleichwohl nicht abweisen ließ. Eine leise Stimme, die mit grausamer Logik flüsterte: Vielleicht wäre es besser für ihn, wenn er tot wäre.
    Sie zog noch fester an der Leine, legte ihr ganzes Gewicht hinein, um gegen den Schnee und die Schwerkraft anzukämpfen. Immer höher und höher, die Finger um das Seil gekrampft, während sie um die Haarnadelkurven bog, vorbei an Kiefern, deren schneebeladene Äste ihr den Blick auf das nächste Wegstück versperrten. Sie hätte doch schon längst da sein müssen. War sie nicht schon hoch genug gestiegen? Aber die Reifenspuren des Jeeps zogen sich noch weiter um die Kurve, und sie sah die Fußabdrücke, die sie selbst hinterlassen hatte, als sie vor einer Weile dieselbe Strecke bergab gelaufen war.
    Ein Schrei drang durch die Bäume, ein markerschütternder Schmerzensschrei, der in einem Schluchzen mündete. Ja, Arlo lebte noch – und jetzt war er aus der Ohnmacht erwacht.
    Sie bog um die Kurve, und da waren sie – genau dort, wo sie sie zurückgelassen hatte. Grace stand noch immer abseits und hielt sich die Ohren zu, um Arlos Schreie nicht hören zu müssen. Elaine lehnte zusammengekrümmt am Jeep und hielt sich den Bauch, als ob sie diejenige mit den unerträglichen Schmerzen wäre. Als Maura mit dem Schlitten näher kam, blickte Doug auf, und aus seiner Miene sprach tiefe Erleichterung.
    »Hast du etwas mitgebracht, womit wir ihn auf den Schlitten binden können?«, fragte er.
    »Ich habe ein Seil und Klebeband gefunden.« Sie stellte den Schlitten neben Arlo ab, dessen Schluchzer zu einem leisen Wimmern verebbt waren.
    »Du nimmst ihn an den Hüften«, sagte Doug, »und ich hebe die Schultern.«
    »Wir müssen zuerst das Bein schienen. Dafür habe ich die Skistöcke mitgebracht.«
    »Maura«, sagte er leise, »es ist nichts mehr da, was man schienen könnte.«
    »Wir müssen das Bein gerade halten. Es darf nicht herumschlenkern, wenn wir ihn den Berg hinunterfahren.«
    Er starrte auf Arlos zerfetztes Bein, blieb jedoch wie angewurzelt stehen. Er will es nicht anfassen, dachte sie.
    Ihr ging es nicht anders.
    Sie waren beide Ärzte, Rechtsmediziner, die es gewohnt waren, Rümpfe aufzuschneiden und Schädel zu öffnen. Aber lebendiges Fleisch war etwas anderes. Es war warm, es blutete, und es war schmerzempfindlich. Kaum berührten ihre Finger sein Bein, fing Arlo wieder an zu schreien.
    »Nicht! Hör auf! Bitte! «
    Während Doug den sich sträubenden Arlo festhielt, isolierte sie das Bein mit zusammengefalteten Decken, hüllte die zerschmetterten Knochen und die gerissenen Bänder ein, das freigelegte Fleisch, das in der Kälte bereits blau anlief. Nachdem das Bein so verpackt war, befestigte sie die beiden Skistöcke mit Klebeband. Als sie mit dem Schienen fertig war, gab Arlo nur noch leise Schluchzer von sich, und sein Gesicht war mit glitzernden Bahnen von Speichel und Schleim überzogen. Er protestierte nicht, als sie ihn seitwärts auf den Schlitten schoben und mit Klebeband festbanden. Nach den Höllenqualen, die sie ihm zugemutet hatten, deutete die wächserne Blässe seines Gesichts auf den einsetzenden Schock hin.
    Doug nahm das Schleppseil, und sie machten sich alle auf den Weg zurück ins Tal.
    Zurück nach Kingdom Come.

11
    Als sie

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